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"Letzte Generation" auf dem Gillamoos: "Im Grunde sind wir alle Adrenalin-Junkies"


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"Letzte Generation" hautnah
Erst shoppen, dann stören

Von Jannik Läkamp

07.09.2023Lesedauer: 7 Min.
Klimaaktivisten kurz nach ihrer Festnahme in München: Kurz zuvor versuchten sie sich an einer prestigeträchtigen Aktion.Vergrößern des Bildes
Klimaaktivisten kurz nach ihrer Festnahme in München: Kurz zuvor hatten sie sich an einer prestigeträchtigen Aktion versucht. (Quelle: Jannik Läkamp/t-online)

Immer wieder fällt die "Letzte Generation" mit provokanten Aktionen auf, sei es das Besprühen eines Privatjets auf Sylt oder das Blockieren einer Landebahn. Wie laufen solche aufsehenerregenden Aktionen eigentlich ab? t-online hat eine begleitet.

Es wird ein langer Tag für Mera Pötzsch. Er beginnt um kurz vor sechs Uhr morgens am Münchner Hauptbahnhof. Es ist noch dunkel. Enden wird er in der Gefangenensammelstelle – mit Aussicht auf Präventivgewahrsam.

Die 20-Jährige ist Mitglied der "Letzten Generation". Ihr Ziel heute: Stören. Eintreten für eine progressivere Klimapolitik der Bundesregierung. Doch es soll eine besondere Aktion sein, nicht nur eine Straßenblockade. Zusammen mit mehreren Unterstützern fährt sie deshalb am frühen Montagmorgen nach Abensberg auf den Gillamoos. Hier werden später der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger, Bayerns Landesvater Markus Söder und CDU-Chef Friedrich Merz beim Politischen Frühschoppen sprechen. Eigentlich sollte Mera Pötzsch heute nur Straßen blockieren. Doch sie und ihre vier Mitstreiter haben mehr vor. Begleitet werden sie von zwei Unterstützern, im Jargon der Aktivisten "Hummeln" genannt.

Deshalb starten sie am frühen Morgen in Richtung Politischer Frühschoppen. Mit im Gepäck der Gruppe: Banner, orangefarbene Westen – und Sekundenkleber. Trotz des gerichtlichen Verbots für einige in der Gruppe, Sekundenkleber bei sich zu führen. Verstoßen sie dagegen, wird es teuer. 1.000 Euro Strafe drohen. Doch das ist den Aktivisten egal. Denn heute soll es neben "normalen" Straßenblockaden (mehr dazu lesen Sie hier) auch eine besondere Aktion geben. Einen Paukenschlag.

"Letzte Generation" stört Söder: "Richtig Bock auf die Aktion"

Obwohl sie schon seit anderthalb Jahren bei der "Letzten Generation" ist, hat Pötzsch noch nie bei einer der besonders Aufsehen erregenden Aktionen der Gruppe mitgemacht, wie etwa das Besprühen eines Privatjets auf Sylt oder das Blockieren einer Flughafenlandebahn. Nun wird es für sie Zeit, das zu ändern. Sie ist spontan eingesprungen, damit bei der Störung auf dem Gillamoos auch eine Frau dabei ist. Sie hat, wie sie sagt, "richtig Bock auf die Aktion". Denn "die Blockaden werden irgendwann zur Routine." Als später der Kleber verteilt wird, nimmt sie sich gleich zwei Tuben. "Zur Sicherheit". Denn was die Aktivisten vorhaben, hat mit Routine nichts zu tun. Sie wollen die hochrangigsten Politiker Bayerns stören, deren Bühne für die eigene Sache nutzen. Doch ob das klappen kann, ist völlig offen. Später wird sich zeigen, dass die Aktion mehrmals kurz vor dem Aus gestanden hatte.

Auf der Fahrt Richtung Ingolstadt, hier wird umgestiegen Richtung Abensberg, ist die Gruppe ruhig, gut gelaunt. Von Nervosität keine Spur. Höchstens von Müdigkeit. Einer der Aktivisten ist Kurt Walter. Er war 42 Jahre lang Polizist, der Job habe ihm Spaß gemacht. Jetzt ist er in Pension – und Aktivist. Dass er dadurch mit seiner Altersvorsorge als ehemaliger Staatsdiener spielt, ist ihm bewusst. Abhalten tut ihn das dennoch nicht. Sorgen macht er sich dennoch, "mal auf der anderen Seite der Zellentür zu landen".

Sein Wecker habe heute um vier Uhr geklingelt. Damit er vor der Abreise noch einen Kaffee trinken konnte. Neidisch blickt er auf den To-go-Becher mit Plastikdeckel des Reporters, der die Gruppe begleitet. "Das geht ja bei mir nicht, wie sähe das denn aus?"

Auch Petr Uchytil, den alle nur "Ert" nennen, möchte heute beim "Paukenschlag" dabei sein. Den Tschechen wird es heute am härtesten aus der Gruppe treffen. Verantwortlich für die Planung ist Arne Springorum. Auch er ist schon lange bei der "Letzten Generation". Ihm wird später die meiste Aufmerksamkeit zukommen. Das ist ihm auch ganz recht, selbst vor Präventivhaft fürchtet er sich nicht, wie er sagt. "Nach vier Wochen Dauerprotest bin ich reif für die Zelle. Schlafen, lesen. Ich hab seit drei Wochen kein Buch mehr aufgemacht. Aktivismus ist purer Stress. Im Grunde sind wir alle Adrenalin-Junkies. Geil ist es zwar nicht, ständig angeschrien zu werden. Aber einer muss den Scheiß ja machen."

Ein besser bewachtes Fest gibt es kaum. Das hält sie nicht ab.

In Ingolstadt angekommen, ist es Zeit, um über den Plan zu sprechen. Alle Eventualitäten und den genauen Ablauf beinahe Sekunde für Sekunde durchzuspielen. Ob der Plan so klappen wird, wissen sie nicht. Allzu gut stehen ihre Chancen nicht, dank der auftretenden Spitzenpolitiker gibt es wohl aktuell kein besser bewachtes Fest als den Gillamoos. Dass sie es trotzdem versuchen werden, ist jedoch keine Frage.

In Abensberg geht es nach einer kleinen Stärkung los Richtung Festplatz, aufgeteilt in kleine Gruppen. Das ist zum einen weniger auffällig, zum anderen können die anderen weitermachen, sollte eine Gruppe erwischt werden. Die Aktivisten sind viel zu früh da, wollen einen Platz vorne an der Bühne erwischen. Pötzsch stellt sich erst mal an ein Geländer am Rand des Zelts.

Kurz darauf wird sie angesprochen. Zwei Offizielle, beide in Tracht, wollen ihre Tasche durchsuchen. Es droht die Enttarnung – lange bevor die Aktion begonnen hat. Doch bei der Taschenkontrolle fällt die orangefarbene Warnweste der Aktivistin nicht auf. Bücher für die Wartezeit auf der Wache oder in der Gefangenensammelstelle (GeSa) verdecken sie. Den Sekundenkleber trägt sie längst versteckt am Körper.

Beinahe erwischt: "Vielleicht liegt es an meiner Kleidung?"

Doch der Kopf der Aktivistin rattert. Wie kamen die beiden Kontrolleure auf sie? Pötzsch trägt einen grünen Pulli und eine graue Hose mit bunten Aufnähern an den Beinen. "Vielleicht liegt es an meiner Kleidung?" Ein lösbares Problem. Also geht es vor der Störaktion, von der sich die Aktivisten bundesweite Aufmerksamkeit erhoffen, erstmal zum Shoppen. An einem der Klamottenstände auf dem Gillamoos kauft sie sich ein auffälliges grünes Kleid. Es soll ihr den richtigen Anstrich geben, um nicht noch einmal in den Verdacht zu geraten, eine Aktivistin zu sein.

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Im Zelt kommt bei ihr die Nervosität. "Ich beginne, die Aktion zu bereuen." Trotzdem will sie sich davon nicht abhalten lassen. Das Festzelt ist brechend voll, jede Bank besetzt. "Wenn die alle wüssten", scherzt Pötzsch. Mit ihrem neuen grünen Kleid sticht sie aus der Menge heraus. Wie eine Aktivistin sieht sie jedoch nun immerhin nicht mehr aus. Einzig die auf ihr Bein geschriebenen Notfallnummern könnten sie verdächtig machen. Wenn sie sich bewegt, blitzen sie manchmal unter dem Saum des Kleides hervor.

Die Spannung steigt, Merz betritt die Bühne

Dann betreten unter Applaus und der Musik einer Kapelle die prominenten Ehrengäste das Zelt. Arbeiten sich Reihe für Reihe durch die Zuschauer vor, schütteln Hände, posieren für Fotos. Etliche Personenschützer bahnen ihnen den Weg und beobachten die Situation. Während ihre Auftritte vom Vorredner angekündigt werden, machen sich die Aktivisten bereit. Es geht los. Arne Springorum, Michael Winter und Kurt Walter haben sich mittig in der dritten Reihe platziert. Sie sitzen an Tischen mit fremden Leuten, plaudern, geben sich als gewöhnliche Gäste aus.

Mera Pötzsch und "Ert" arbeiten sich derweil durch den Pulk zum linken Teil der Bühne vor. Wie eine Boje sticht Pötzschgrün aus der Menschenmenge hervor.

Vermeintlich gut getarnt – "Ert" trägt ein legeres Hemd –, stehen sie direkt an der Bühne, grinsen ab und an in die Kamera, wenn der t-online-Reporter vom Pressetisch ein Foto von ihnen macht. Merz betritt die Bühne, beginnt seine Rede. Die Spannung steigt. Wann genau die Aktivisten zuschlagen wollen, ist unklar.

Doch Pötzsch und "Ert" sind plötzlich verschwunden. Warum, wird sich erst später aufklären. Merz spricht weiter. Und es passiert – nichts. Ist die Aktion gescheitert? Die Sicherheitsleute und Personenschützer, die die Bühne bewachen, wirken unruhig. Sind die Aktivisten aufgeflogen?

Während der ganzen Rede von Friedrich Merz bleibt es ruhig. Rednerwechsel. Markus Söder betritt die Bühne. Und spricht. Ohne Unterbrechung. Bis plötzlich Springorum auf seinen Biertisch springt, alle überrascht, und mit Söder sprechen will. Michael Winter und Kurt Walter entrollen, vom ganzen Festsaal ausgebuht, für wenige Sekunden ein Banner, bis es ihnen weggenommen wird. Springorum wird von einem kräftigen Mann unter lautem Gejohle der Biertischler auf den Schultern nach draußen getragen. Söder ruft ihm ein paar Scherzworte hinterher. "Bestellen Sie sich a Maß, bestellen Sie sich ein Hendl. Haben Sie Spaß."

Verglichen mit dem ursprünglichen Plan der Aktivisten – die Bühne stürmen, festkleben, das Mikrofon für eine Rede kapern – ein mauer Ausgang. Für sie trotzdem ein Erfolg. "Wir haben gestört, Söder hat direkt mit uns gesprochen", erklärt Springorum. Das reicht ihnen offenbar. Pötzsch und "Ert" bleiben jedoch erst einmal verschollen, stoßen erst am Bahnhof wieder zu der Gruppe.

Von der Störaktion in die Straßenblockade

"Wir wurden rausgezogen, offenbar weil wir jung sind. Das ging auch einigen anderen so, die nichts mit uns zu tun hatten", erklärt Pötzsch. "Aber bei uns haben sie dann halt die Westen gefunden." "Ert" soll sogar in Handschellen genommen worden sein, weil er mehrfach versucht habe, aus der Festsetzung der Polizei zu entkommen. Eine Straftat wird den beiden jedoch nicht vorgeworfen, die Anti-Klebe-Allgemeinverfügung gilt nur in München, nicht mehr in Abensberg.

Niemand wird von der Polizei mitgenommen. Nicht einmal Springorum, der auf dem Tisch stand. Die Aktivisten machen noch schnell ein Foto vor dem Rathaus, dann geht es zurück nach München. Ihr Tag ist jedoch noch nicht vorbei. Mehr Aufmerksamkeit geht immer.

Keine drei Stunden später sitzen die Aktivisten auf einer Straße in der Nähe des Münchner Ostbahnhofs, zum Teil angeklebt. "Ert" wird bei der Straßenblockade von einem Autofahrer ins Gesicht geschlagen, gegen den Mann ermittelt inzwischen die Münchner Polizei. Mehr dazu lesen Sie hier.

Und die Aktivisten, die ausgezogen sind, um Söder zu stören, kriegen nun doch noch Ärger mit der Polizei. Kurz bevor sie abtransportiert wird, sitzt Pötzsch noch entspannt auf dem Gehweg, bewacht von mehreren Polizisten, und liest ein Buch.

Kurz danach wird sie in einen Polizeitransporter geladen. Sie grinst noch einmal in die Kamera. Jetzt geht es für sie also doch in die Gefangenensammelstelle – und womöglich in Präventivhaft. Ein erfolgreicher Tag, wird sie später sagen.

Verwendete Quellen
  • Reporter vor Ort
  • Eigene Beobachtungen
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