Nach Missbrauchsgutachten ZdK-Präsidentin: "Die katholische Kirche hat doppelt versagt"
Das Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising hat Papst Benedikt XVI. schwer belastet – doch Konsequenzen bleiben vorerst aus. Der Zentralrat der Katholiken kritisiert das scharf.
Nach der Veröffentlichung des neuen Gutachtens zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising hat die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, die Führung der Kirche schwer kritisiert. "Wann folgen endlich Konsequenzen, die der dramatischen Lage gerecht werden?", fragte sie in einer Erklärung vom Donnerstag. Das Ausbleiben "überzeugender Strukturreformen" zeige, dass rechtswidrige Verhaltensweisen in der deutschen Kirche "bis in die Gegenwart" reichten.
"Auch im Jahr 2022 heißt die bittere Realität: Das System der Vertuschung, des Vergessens und der schnellen Vergebung ist nicht aufgebrochen worden", erklärte Stetter-Karp weiter. Sie bezeichnete es als "erschreckend", dass der emeritierte Papst Benedikt XVI. selbst im vergangenen Dezember offenbar noch kein Fehlverhalten eingeräumt habe.
Stetter-Karp erklärte weiter, sie glaube nicht mehr daran, dass die Kirche die Aufarbeitung allein schaffe. Zu zögerlich seien viele Diözesen daran gegangen, unabhängige Kommissionen zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals einzusetzen. Es gehe nur schleppend voran. Das Münchner Gutachten belege zudem, dass unabhängige Ombudsstellen für Betroffene von sexueller Gewalt eingerichtet werden müssten und auch die Gemeinden, in denen Täter gearbeitet und gelebt hätten, in die Aufarbeitung einbezogen gehörten.
Stetter-Karp: Katholische Kirche hat "doppelt versagt"
Die katholische Kirche habe gegenüber den Betroffenen von sexueller Gewalt "doppelt versagt". Denn sie habe ihren Auftrag, die Schwächsten in der Gesellschaft zu schützen, nicht erfüllt. Darüber hinaus habe sie noch selbst Räume für Missbrauch eröffnet.
Das neue Gutachten erhebt schwere Vorwürfe gegen den emeritierten Papst. Benedikt hat demnach als damaliger Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen. In einer Stellungnahme bestritt Benedikt demzufolge seine Verantwortung "strikt". Er bekundete über seinen Sprecher Georg Gänswein nach der Veröffentlichung des Gutachtens "Schock und Scham über den Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker". Die Gutachter betonten, dass sie Benedikts Stellungnahme auf Grundlage von Zeugenbefragungen und der Aktenlage als "unglaubwürdig" erachten.
Castellucci: "Dafür gibt es unseren Rechtsstaat"
Auch der religionspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castellucci, forderte eine unabhängige Untersuchung zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. "Keiner kann sich selbst aufklären, dafür gibt es unseren Rechtsstaat", sagte er der "Augsburger Allgemeinen". "Es kann nicht sein, dass der Schutz der Organisation größer geschrieben wird als der Schutz der Menschen."
Nach den Erfahrungen mit den verschiedenen Gutachten in unterschiedlichen Bistümern fordert Castellucci einen "verbindlichen gemeinsamen und überprüfbaren Rahmen für die Aufarbeitung in ganz Deutschland". Transparenz und Unabhängigkeit der Aufklärung müssten gestärkt werden. Er kündigte an, dass die Ampelkoalition die Position des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs stärken und seine Arbeit gesetzlich regeln wolle. Außerdem solle eine regelmäßige Berichtspflicht an den Deutschen Bundestag eingeführt werden.
Auch Marx wird schwer belastet
Das vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden. Es wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Ratzinger konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor. Ratzinger streitet jedes Fehlverhalten ab.
Dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird ebenfalls Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Marx war der Präsentation des Gutachtens am Donnerstag ferngeblieben, äußerte sich jedoch am Nachmittag zu den Vorwürfen gegen ihn.
- Nachrichtenagenturen AFP, dpa