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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Aktion gegen Verschwendung Dieses Kunstwerk öffnet Augen
Künstler verwandeln Verpackungsmüll in Skulpturen. Die öffentlich ausgestellten Werke sollen ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung setzen.
Franz Nagl braucht sein Ziel nur kurz anzuvisieren. In der rechten Hand einen Hammer, die linke fixiert den Nagel, zwei gezielte Schläge später ist der Metallstift im Holz der Europalette versenkt, und mit ihm ein Plastikdeckel, der früher zu einem Milchkarton gehörte. Doch nun ist jener weiße Verschluss ein Stück Kunst – ebenso wie das zugehörige Tetra Pak. Genauer gesagt sind es Tausende dieser Verpackungen sowie exakt 5.303 Plastikdeckel, mit denen Franz Nagl einen fünfeinhalb Meter langen Holzquader aus Paletten ummantelt.
"Tetratonne" heißt die Skulptur des Künstlers aus Petershausen (Kreis Dachau), die demnächst im Münchner Stadtteil Feldmoching stehen wird. Mit seinem Werk bezieht sich Nagl auf die gewaltige Menge von eigentlich noch essbaren Lebensmitteln, die hierzulande im Müll landet. So sollen allein im Stadtbezirk Feldmoching-Hasenbergl, wo gut 60.000 Menschen leben, 5.303 Kilo verzehrfähige Nahrung weggeworfen werden. Jeden Tag. Münchenweit sollen es sogar 132.809 Kilo Brot, Milch und Gemüse sein, die täglich im Abfall landen – mithin das Gewicht von 22 Elefantenbullen. Oder anders ausgedrückt: 132.809 gefüllte Tetra Paks.
25 Kunstwerke in sämtlichen Stadtbezirken
Und genau so viele dieser Verpackungen werden ab Mitte Juni einen Monat lang in München zu sehen sein – in Form von 25 Kunstwerken in sämtlichen Stadtbezirken. Hinter dem Projekt steht die "Community Kitchen", die seit 2021 aussortierte Lebensmittel im großen Stil rettet und daraus Mahlzeiten für ihr Lokal in Neuperlach, ihre Kantinen sowie Suppen, Eintöpfe und Marmeladen im Glas fertigt.
"Die Menge an Lebensmitteln, die bei uns im Müll landet, ist einfach unvorstellbar", sagt Gründerin Günes Seyfarth. Und genau das sei der Ausgangspunkt jenes Kunstprojekts namens "Tetrap-Act-on-foodwaste", das demnächst in ganz München zu sehen ist. Zwei Jahre lang haben sie an den Kunstwerken gearbeitet. "Die reine Zahl 132.809 erschlägt einen", sagt Günes Seyfarth. "Deshalb habe ich lange überlegt: Wie könnte man das darstellen?" Und so kam sie auf den Tetra Pak, der von der gleichnamigen Firma aus der Schweiz gefertigt und weltweit vertrieben wird.
Zwei Hühnersteälle aus 6.000 Tetra Paks nachgebaut
Ein halbes Jahr lang sammelte die "Community Kitchen" Zehntausende dieser Verpackungen, reinigte sie und gab sie danach an 25 Künstlerinnen und Künstler weiter. Eine von ihnen ist Maddox Pratt, die ein Stockwerk über Franz Nagl mit Ziegelsteinen aus geschredderten Tetra Paks hantiert. "Die Idee zu meinem Werk ist mir mitten in der Nacht gekommen", erzählt die Künstlerin aus den USA. Sie wird ihre Tetra-Pak-Ziegelsteine am Cosimabad in Bogenhausen aufeinanderstapeln; drumherum kommt eine rot angemalte Skulptur mit dem Schriftzug "Beauty Is a Matter of Perspective" ("Schönheit ist eine Frage der Perspektive").
"Ein großer Teil der Lebensmittelverschwendung geht auf unsere Vorstellung von Schönheit zurück", erklärt Maddox Pratt. "Darauf will ich mit meinem Kunstwerk hinweisen." Einen anderen Ansatz verfolgt Karina Schlaffer, die aus mehr als 6.000 Tetra Paks zwei Hühnerställe nachbaut. Der eine zeigt, wie sechs Bio-Hennen mit Tageslicht und Auslauf auf 24 Quadratmetern gehalten werden. In dem anderen Stall sind zwölf Hennen – auch die Tiere sind aus Tetra Paks gefertigt – auf gerade mal einem Quadratmeter zusammengepfercht.
Auch ein Modedesigner aus dem Senegal ist dabei
"Mir geht es darum, die Gegensätze aufzuzeigen", sagt die Münchnerin. So beschreibt ihr Kunstwerk, das auf dem Willy-Brandt-Platz in Riem ausgestellt wird, auch noch einen zweiten Part. Der befasst sich mit krummem und schiefem Gemüse, das allein aus optischen Gründen im Müll landet. Wie groß die Bandbreite der 25 Kunstwerke ist, zeigt sich auch im Atelier von Ousmane Diao. Der Modedesigner aus dem Senegal verbindet mit seinen Skulpturen die Themen "Foodwaste" und "Fast Fashion", also die Wegwerfmentalität bei Lebensmitteln und Mode. "Ich will den Menschen auch vor Augen führen, welche Wechselwirkungen es bei dieser Verschwendung zwischen dem Globalen Norden und Süden gibt", sagt Ousmane Diao.
Dazu hat er Tausende Tetra Paks zusammengenäht und sie zusammen mit Stoffresten unter anderem zu Altkleider-Ballen verarbeitet, wie sie westliche Länder nach Afrika verschiffen. Ousmane Diaos Kunstwerke werden auf dem Schweizer Platz in Fürstenried zu sehen sein, wo der Künstler auch eine Näh-Performance plant. Das passt wiederum zum Ansinnen von Kunstprojekt-Gründerin Günes Seyfarth. Die Aktion soll von Bildungsarbeit begleitet werden. Schulen und Kindergärten sollen sich an Projekttagen mit den Kunstwerken und dem Thema Lebensmittelverschwendung beschäftigen.
Außerdem soll es vor allem für junge Menschen eine App geben, die eine digitale Schnitzeljagd zu den Standorten ermöglicht. Im Zentrum des Projekts stehen aber die 25 Kunstwerke – aus 132.809 Tetra Paks.
- Reporter vor Ort
- Interview mit Günes Seyfarth
- community- kitchen-muc.org/tetrapact/