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München

Multiple Sklerose: Münchner Betroffene erzählt vom Leben mit der Krankheit


Münchnerin über chronische Krankheit
"Meine MS entscheidet, was für mich richtig ist"

Von Sarah Koschinski

30.05.2024Lesedauer: 6 Min.
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Multiple Sklerose (Symbolbild) verläuft meist in Schüben und kann unterschiedliche Verlaufsformen haben. (Quelle: Science Photo Library via www.imago-images.de/imago)

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung des Nervensystems. Oft leiden die Betroffenen im Stillen. Eine Münchnerin erzählt, wie die Diagnose ihr Leben verändert hat.

Sie wird auch die Krankheit der tausend Gesichter genannt: Multiple Sklerose, kurz MS. Betroffene wissen oft nicht, was sie nach der Diagnose erwartet. Manche landen innerhalb kürzester Zeit im Rollstuhl, andere leben mit der Krankheit viele Jahre, ohne dass man ihnen etwas ansieht. Eine Münchnerin erzählt, wie sie seit zwölf Jahren mit der Krankheit lebt, was sich seitdem verändert hat und wie sie es geschafft hat, die MS als ständige Begleiterin zu akzeptieren.

Dass die MS schon viele Jahre in ihrem Körper geschlummert hat, davon ist Andrea Müller (Name von der Redaktion geändert) heute überzeugt. Nach anderthalb stressigen Jahren, in denen sie parallel zu ihrem Vollzeitjob die Ausbildung zur Immobilienfachwirtin machte, schlug die MS zum ersten Mal so richtig zu.

MS-Erkrankung blieb lange Zeit unerkannt

Die heute 59-Jährige erinnert sich noch gut an diese Zeit. Alles fing scheinbar harmlos an. "Ich habe gemerkt, dass meine Füße hinten an der Ferse pelzig werden." Das sei kurz vor einem Norwegenurlaub gewesen. Sie ging zum Orthopäden, der konnte jedoch nichts finden. Um sicherzugehen, schickte er Andrea Müller zum Neurologen. Auch der sagte: alles in Ordnung. Von Multipler Sklerose war keine Rede.

Also startete sie mit Ihrem Mann in den Urlaub. Mit dem Go der Ärzte besuchte sie zunächst ihre Tochter in Kiel. "Dort bin ich dann nicht mehr in meine Schuhe reingekommen." Sie beschreibt das Gefühl als "von unten aufsteigend" und so, "dass nichts mehr ging". "Ich bin nur noch mit Bergschuhen rumgelaufen, weil ich nichts mehr gespürt habe."

Diagnose: Multiple Sklerose

Andrea Müller und ihr Mann mussten die Reise nach Norwegen abbrechen. Stattdessen fuhren sie zurück nach München – ins Krankenhaus. Nach einer Odyssee an unangenehmen und schmerzhaften Untersuchungen kam endlich die Diagnose: Multiple Sklerose. "Da war ich natürlich völlig perplex", erinnert sich Müller.

Sie konnte nicht mehr selbstständig gehen, brauchte immer jemanden, der sie an der Hand hielt. "Es ging gar nichts mehr. Und dann wurde ich mit Kortison vollgepumpt". Danach ging es ihr erst mal wieder gut. Dank der Behandlung steckte sie den Schub gut weg. "Doch es war so ein Bruch, der irgendwo da war. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass ich damals auch in eine Art Depression gefallen bin."

Verheimlichte MS vor ihrem Arbeitgeber

Ihrem Arbeitgeber sagte sie erst mal nichts. Zu gering war das Vertrauen, zu groß die Scham. In ihrem Kopf ein Gedanke, der sie immer begleitete: "Was macht die MS überhaupt mit mir? Du weißt ja nicht: Bleibt es bei dem einen Schub, oder kommen noch mehr?" Sie fühlte sich unsicher und behauptete, Probleme mit der Bandscheibe zu haben.

Ein Jahr lang ging sie mit der MS zur Arbeit, versuchte dort, "ihr Bestes zu geben". Doch nicht nur sie hatte sich verändert, sondern vor allem auch ihre Leistungsfähigkeit. Die Fatigue übernahm oftmals die Kontrolle, "viele Informationen, die meine Chefin mir gab, sind nicht bis zu meinem Gehirn durchgedrungen". Heute weiß sie, dass sie viele Dinge nicht aufnehmen konnte, weil die Multiple Sklerose auch mit ihrem Gehirn etwas gemacht hatte.

Was ist eine Fatigue?

Bei der Fatigue, unter der MS-Patienten oftmals leiden, handelt es sich um ein überwältigendes und andauerndes Erschöpfungsgefühl. Es beeinträchtigt die Lebensqualität massiv, da sie mit körperlicher und geistiger Antriebslosigkeit einhergeht.

Heute, 12 Jahre nach ihrer Diagnose, ist Andrea Müller überzeugt, dass die MS schon lange vorher in ihr geschlummert hatte. Doch sie ist froh, dass die Gewissheit erst Jahre später folgte. Andernfalls hätte sie nicht gewusst, wie sie damit ein Kind hätte bekommen oder eine Ehe führen sollen. Denn oftmals sei die Reaktion auf die Krankheit: "Oh Gott, du sitzt direkt im Rollstuhl!"

Und auch bei Andrea Müller begannen die Gedanken zu kreisen: "Wir wohnen in einem Haus mit zwei Etagen, wie komme ich da rauf und runter? Wie komme ich rein und raus?" Bis heute kommt sie noch gut zurecht. "Aber ich musste mein ganzes Leben umstellen." Dazu zählt auch die tägliche Frage: Was kann ich noch, wie weit kann ich meinem Körper noch vertrauen?

Müller erinnert sich, wie sie einmal mit dem Fahrrad unterwegs war. "Die rechte Seite habe ich gespürt und bei dem linken Bein wusste ich, dass das mittritt, aber ich wusste nicht mehr, wo, weil ich es nicht mehr gespürt habe."

MS begleitet Betroffene ein Leben lang

Inzwischen macht sich Müller nicht mehr so viele Gedanken. "Ich bin ja schon ein relativ alter Hase, was das Ganze anbelangt, weshalb ich nicht mehr so schnell vor den Kopf gestoßen bin. Ich sag' mir jetzt: Wir schauen uns das erst mal an." Sollte es schlimmer werden, dann setzt sich Andrea Müller Ziele, wie lange sie das noch beobachtet, und geht dann erst zum Neurologen.

Doch genau diese Unsicherheit, was das gerade in ihrem Körper ist, sei das, was sie so mürbe mache bei der MS. "Man ist so alleine mit sich selber. Klar, könnte ich meinem Partner jeden Tag was vorjammern, aber der hat auch seine eigenen Probleme."

DMSG war Anlaufstelle für Müller und ihren Mann

Mit ihrem Mann ging sie zur Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) zur Beratung. "Es ist ja nicht nur meine Erkrankung, sondern er muss damit auch leben." Inzwischen sind Müller und ihr Mann Teil einer Selbsthilfegruppe mit Betroffenen und Angehörigen. In einigen der Teilnehmer hat Müller sogar Freunde gefunden. Vielleicht auch oder gerade weil sie Verbündete sind, fühlt sie sich von ihnen verstanden. Andere Freunde hingegen sehen sie nur, wenn es ihr gut geht.

Bei der DMSG fand sie neben Verbündeten auch kompetente Beratung: "Das hat mir am Anfang so viel gegeben, weil ich viel auch nicht wusste. Was mache ich, wenn ich krankgeschrieben bin? Sollte ich Erwerbsminderungsrente beantragen und wie geht das überhaupt?"

MS hat Kontrolle über den Körper übernommen

Sie musste auf die harte Art lernen, dass durch die Krankheit aus "ich entscheide, was ich mache", "meine MS entscheidet, was für mich richtig ist, was geht, und was nicht geht", wurde. Ein Jahr nach der Diagnose, in dem sich Andrea Müller zur Arbeit und durch den Alltag schleppte, ließ sie sich von ihrem Arzt krankschreiben und ging auf Reha. Sie wollte wissen: "Was kann ich überhaupt noch?" Nach ihrem Aufenthalt in einer Rehaklinik war klar: Sie kann nicht mehr arbeiten. "Wenn ich heute Dinge mache, die einem normalen Arbeitstag entsprechen würden, kann's mir passieren, dass ich zwei Tage brauche, bis ich dann wieder normale Dinge erledigen kann."

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose (MS) ist eine autoimmune, chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rückenmark erfasst und meist im frühen Erwachsenenalter beginnt. MS verläuft meist in Schüben und kann unterschiedliche Verlaufsformen haben. Die Krankheit lässt noch viele Fragen unbeantwortet und ist in Verlauf, Beschwerdebild und Therapieerfolg von Patient zu Patient so unterschiedlich, dass sich allgemeingültige Aussagen nur bedingt machen lassen. Aus diesem Grund ist MS auch als "Krankheit mit den 1.000 Gesichtern" bekannt.

Nachdem Müller schließlich Frührente erhalten hatte, fing sie an, sich mehr um sich zu kümmern und Sachen zu tun, die ihr guttun und mit der MS besser verträglich sind. Sie verzichtete größtenteils auf Fleisch, hat sich ihre Amalgamfüllungen entfernen lassen und ist zur Volkshochschule gegangen, um dort Malkurse zu besuchen. Auch Sport, unter anderem Yoga, mache sie regelmäßig.

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"Ich mache viel für meine MS. Ich versuche mich an dem festzuhalten, was ich alles kann. Aber das, was ich alles nicht kann, kommt doch auch immer mal wieder zum Vorschein", sagt Müller hin- und hergerissen. Sie versuche einfach im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv zu sein und oft rauszugehen.

"Das bin nicht ich"

Und doch gibt es auch Momente, in denen sich Andrea Müller selbst nicht mehr erkennt. "Das bin nicht ich", sagt sie leise. "Ich stelle immer wieder fest, was diese bescheuerte Erkrankung mit mir macht." Heute ist sie "relativ schubfrei", wie sie sagt. "Doch was die MS vorher schon angerichtet hat, das ist halt immer noch da."

Vor jeder MRT-Untersuchung, die jährlich ansteht, fragt sie sich: "Was ist jetzt wieder kaputt?" Wenn sie danach weiß, dass alles in Ordnung ist, überkommt sie die Erleichterung. Und auch für ihre Familie, insbesondere für ihren Partner, ist es jedes Mal wieder nervenaufreibend.

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Müller beschreibt ihr Leben mit der MS als Gratwanderung – auch gegenüber ihrem Partner. Ihrem Mann zu sagen, dass sie in manchen Momenten einfach nicht kann, auch wenn sie gerne würde, fällt ihr bis heute schwer. Auch ihre Schnelligkeit ist der MS zum Opfer gefallen: "Bei manchen Dingen reagiere ich viel langsamer als andere. Da merke ich: Das bin ich nicht, so war ich früher nicht!" Aber dann nimmt sie sich die Zeit, die sie braucht. Irgendwie hat sie die Veränderung ihres Körpers durch die Multiple Sklerose akzeptiert.

Verwendete Quellen
  • Interview mit MS-Betroffener
  • Eigene Recherche
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