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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rede vor Münchner Stadtrat Vitali Klitschko berichtet Grausames – in München ist man hilflos
Im Stadtrat seiner Partnerstadt berichtet der Kiewer Bürgermeister in einem dramatischen Hilferuf vom Ukraine-Krieg. In Bayern reagiert man hilflos. Die Frage stellt sich: Tut die Stadt genug?
Eine Hand voll Kugeln hält Vitali Klitschko in der Hand. Die liegen inzwischen überall in Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, berichtet er. In seiner Stadt also, in der Klitschko seit acht Jahren als Bürgermeister regiert. Sie stammen aus russischen Raketen, Streumunition, die nach einer Explosion durch die Luft schießen und ihre Opfer schwer verletzen oder töten. Es kann einen nicht kalt lassen, was er erzählt.
In seiner Rede vor dem Münchner Stadtrat am Mittwochmorgen, live zugeschaltet aus Kiew, schildert Klitschko, der in Deutschland als Box-Champion bekannt wurde, die Lage bei ihm. Die Stadt sei "halbleer", ständig höre man Sirenen und Explosionen.
Die Kugeln, die Klitschko zeigt, sind nichts anderes als eine Massenvernichtungswaffe: Sie treffen nicht gezielt, sondern sollen einfach zerstören, was ihnen in den Weg kommt. Für Klitschko ist klar: "Es ist ein Genozid, den Russland verübt." Ein Völkermord an den Ukrainerinnen und Ukrainern.
Vitali Klitschko ist Bürgermeister der Münchner Partnerstadt
Kiew ist Partnerstadt Münchens: 1992 wurde hier das erste Generalkonsulat der Ukraine weltweit eröffnet. Klitschko betont die Verbundenheit der beiden Städte, bedankt sich für die Unterstützung aus Bayern und dessen Hauptstadt. Humanitäre Hilfe geht von dort in die Ukraine, von Krankenwagen und Feuerwehrautos berichtet Klitschko. Doch wer Klitschko zuhört, dem ist klar: Das alles kann ihm nicht genug sein.
"Ich verstehe, dass es schmerzhaft ist, wirtschaftlich", richtet er sich an den Münchner Stadtrat – und indirekt an die Bundesregierung. "Stoppen Sie die Beziehungen zu Russland!" Jedes Geld, das derzeit nach Russland fließe, finanziere den Angriff auf die Ukraine, sagt Klitschko.
Er ist überzeugt: Ein Kompromiss sei mit der russischen Regierung um Präsident Waldimir Putin nicht möglich. Natürlich könne man Russland sanktionieren. "Aber wir sagen: 'Ein Wolf verliert seine Zähne, aber nie seinen Charakter'", erklärt Klitschko.
Beziehungen zwischen München und Russland sind Thema
Klitschkos Worte wirken bei den Lokalpolitikern in München nach, auch die Stadt darf sich wohl angesprochen fühlen: Klar, internationale Politik sei Aufgabe der Bundesregierung, erklärt Oberbürgermeister Dieter Reiter. "Ich bin Deiner Meinung", sagt er zu Klitschko. Die Bundesregierung wisse, wie sie Russland sanktionieren könne, sie werde das auch weiter tun.
München pflege "keinerlei Beziehungen zu Russland", sagt Reiter. Und erntet Widerspruch: "Wie kann man sich so in die Tasche lügen?", entgegnet ÖDP-Stadträtin Nicola Holtmann.
Die Stadt schaffe es nicht einmal, im eigenen Wirkungsbereich keine Gasheizungen mehr zu installieren – um von russischen Lieferungen unabhängig zu werden. Reiter bleibt bei seinem Standpunkt, bekräftigt und relativiert sich zugleich: "Hätten Sie sich informiert, wüssten Sie, dass wir alles tun, um Beziehungen mit Russland zu vermeiden", entgegnet er Holtmann.
München betrachtet hilflos die Schrecken in Kiew
Reiters Parteikollegin und SPD-Fraktionschefin Anne Hübner sagt: "Alles, was wir machen können, ist humanitär zu helfen." Im Raum bleibt die Frage: Reicht das, wofür Klitschko sich in seiner Rede bedankt hat, wirklich aus? Und natürlich: Was steht überhaupt noch in der Macht Münchens?
Denn dass die Stadt allein dazu beitragen könnte, den Krieg und das Sterben zu beenden, bleibt eine Utopie. Ein wenig Linderung kann sie verschaffen, doch in der Frage, wie man die Gräuel stoppen kann, bleibt ihr nicht viel mehr übrig als Hilflosigkeit. Klitschko erzählt, doch auf seine konkreten Forderungen muss Reiter entgegnen: "Wir sind auch verzweifelt." Aber zumindest auch: "Voller Hoffnung." Und: "Wenn Ihr etwas braucht, sagt es uns."
Vitali Klitschko schildert Grausamkeit des Ukraine-Krieges
Mit vielen Punkten aus Klitschkos Rede stimmt man im Stadtrat voll überein: Wie grausam dieser Krieg ist und wie wichtig der ukrainische Widerstand für ganz Europa. "Danke für Euren Kampf für die Freiheit", sagt Reiter zu seinem Kiewer Amtskollegen.
Was Anlass zur Verzweiflung gibt, sind Beschreibungen wie diese: "Mir wurde berichtet, es wurden 70 Tonnen Leichen begraben", erzählt Klitschko. "Ich habe gefragt: '70 Tonnen, was ist das für eine merkwürdige Angabe?' Aber die Antwort war, die Menschen sind von Raketen so zerfleddert, man kann sie nicht mehr zählen. Man kann nur Teile sammeln und nach Gewicht messen."
Klitschko, den man abseits des Boxrings als freundlichen, charmanten Menschen kennengelernt hatte, hat keinen Grund mehr, wie sonst stets ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen zu tragen. Sein Blick ist immer wieder auf den Boden gerichtet, die Mimik starr. Wenn er von Putin spricht, zieht er die Augen vor Wut zusammen. Er war ein Box-Superstar, heute sitzt er in Militärkleidung in Kiew, mitten im Krieg.
Klitschko: "Wir werden niemals Russlands Sklaven sein"
Was gibt da Anlass zur Hoffnung? "Wir gehen niemals auf die Knie", sagt Klitschko. "Wir werden niemals Russlands Sklaven." Menschen, die nie kämpfen wollten, fragten nun nach Waffen, um sich zu verteidigen. "Keiner hat gedacht, dass wir uns so tapfer wehren", sagt Klitschko. Für Demokratie und Freiheit.
Aufgewachsen in der Sowjetunion dachte er, der Westen wolle seine Heimat angreifen und zerstören. Heute wisse er, dass das alles nur Propaganda gewesen war. "Als ich die Menschen in Deutschland kennengelernt habe, habe ich gemerkt, wie freundlich so sind", berichtet er. "Sie leben so, wie wir auch leben wollen."
- Rede von Vitali Klitschko am 23. März im Münchner Stadtrat