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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sexueller Missbrauch Mutmaßliches Opfer zeigt seinen Peiniger an – er streitet die Taten ab

Ein 37-Jähriger ist vor dem Landgericht München I angeklagt. Der Vorwurf: Er soll einen Neunjährigen über 1.000-mal sexuell missbraucht haben. Er streitet das ab.
Am Dienstagmorgen um 9.30 Uhr hat vor dem Landgericht München I ein Prozess zu einem Fall begonnen, der laut Anklage der Staatsanwaltschaft erschreckende Ausmaße haben soll: Einem 37-Jährigen wird vorgeworfen, ein Kind über Jahre hinweg sexuell missbraucht zu haben. In der zehnseitigen Anklageschrift listet die Staatsanwaltschaft, beginnend im Jahr 2011, insgesamt 993 Fälle auf, bei denen sich der Angeklagte an dem damals Neunjährigen vergangen haben soll. Der 37-Jährige streitet die Taten ab.
Oktober 2010: Der 22-jährige Florian K. meldet sich auf der Plattform betreut.de an. Dort bietet er neben Hilfe bei der Gartenarbeit auch Unterstützung bei der Kinderbetreuung an. Eine alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen engagiert den gebürtigen Rosenheimer. Dieser soll zweimal wöchentlich zu der Familie nach Hause kommen. Die beiden Jungs sind zu diesem Zeitpunkt neun und 14 Jahre alt. Den älteren der beiden bekommt Florian K. kaum zu Gesicht, für den Jüngeren hingegen bereitet er das Essen vor, hilft ihm bei den Hausaufgaben oder macht Unternehmungen mit ihm.
Angeklagter sieht sich selbst in kleinem Jungen
Den Neunjährigen beschreibt der 37-Jährige vor Gericht als "introvertiertes, unglücklich wirkendes Kind", das sehr untergewichtig gewesen sei. Er habe wenig soziale Kontakte gehabt und sei "krass gemobbt" worden. Eine Rolle, die der Angeklagte zu kennen scheint. Seine Eltern ließen sich früh scheiden. Mit sechs kam er ins Internat, während seine ältere Schwester zu Hause bei der Mutter bleiben konnte. Dort sei er mit zehn Jahren Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden, wie er vor Gericht aussagt. Als er gerade beim Spielen in einer nahegelegenen Scheune war, habe ein älterer Mitschüler den Angeklagten gezwungen, ihn oral zu befriedigen.
Als Florian K. 19 Jahre alt ist, wird er das erste Mal straffällig. "2007 habe ich den ersten und einzigen Übergriff getätigt." Er passte abends auf einen sechsjährigen Jungen auf, dessen Familie er kannte. Der 19-Jährige habe dem Jungen an sein Glied gefasst und ihn oral missbraucht. "Ich kann gar nicht mehr genau sagen, warum ich das gemacht habe." Für diese Tat wurde Florian K. 2008 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Mutter des Jungen wusste nichts von der Vorstrafe
Die Mutter der beiden Jungen weiß nichts von der Vorstrafe, als sie den gelernten Heilerziehungshelfer im Oktober 2010 einstellt. Zu dem jüngeren der beiden Söhne der Familie aus Planegg habe er zunächst keine Bindung gehabt, sagt der Angeklagte vor Gericht aus. Doch dann wendete sich das Blatt. Florian K. habe Mitleid mit dem Jungen bekommen. "Der hat eine Familie und die interessiert sich nicht für ihn. Und so ging es mir ja auch." Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft sind sich einig, dass Florian K. über die Zeit eine enge Bindung zu dem Jungen aufgebaut habe.
Der Angeklagte wurde wohl zur wichtigsten Bezugsperson des Jungen. Die Staatsanwaltschaft spricht sogar von einer Vaterfigur.
Im Alter von zehn soll der Junge erstmals zum Opfer geworden sein
Es ist inzwischen Frühwinter 2011. Der Junge ist jetzt zehn Jahre alt und geht in die fünfte Klasse. Nach einem gemeinsamen "Harry Potter"-Filmeabend, bei dem auch ein Freund des Jungen dabei war, soll Florian K. in der Nacht immer wieder seine Hand in die Hose des inzwischen 10-Jährigen gesteckt und dessen Penis berührt haben. Immer wieder soll der Junge die Hand weggetan haben, immer wieder soll der Angeklagte ihn berührt haben. So lange, bis der Junge aufgegeben habe und am nächsten Morgen immer noch mit der Hand des Angeklagten an seinem Penis aufgewacht sein soll.
In den darauffolgenden Wochen und Monaten sollen die sexuellen Übergriffe von Florian K. weitergegangen sein. Der Angeklagte hingegen sagt aus, dass er den Penis des Jungen "nie angefasst" habe.
Angeklagter soll Junge mehrfach täglich missbraucht haben
Ein halbes Jahr nach dem "Harry Potter"-Filmeabend soll der Angeklagte dann noch weiter gegangen sein und den Jungen laut Anklage zum Analverkehr gedrängt haben. Zur ersten Vergewaltigung kam es laut Staatsanwaltschaft auf einem Campingplatz in Aying. Bei einem weiteren Campingplatz-Besuch in Utting, als der Junge zwölf oder 13 Jahre alt war, soll der Angeklagte ihm angekündigt haben, einen "Orgasmen-Rekord" aufstellen zu wollen. An diesem Tag soll es zu 13 Vergewaltigungen gekommen sein.
Kurz darauf kam es dann laut Anklage auch zum ersten Mal zum Oralverkehr. Insgesamt soll es bis zum 18. Geburtstag des Jungen "teilweise täglich, manchmal mehrfach täglich, aber mindestens dreimal wöchentlich" zum Oral- oder Analverkehr gekommen sein – bei dem Jungen zu Hause, aber auch außerhalb davon, beispielsweise im Urlaub.
Mutmaßliches Opfer zeigt Angeklagten 13 Jahre später an
Über seinen Anwalt lässt Florian K. mitteilen, dass er die insgesamt 993 Fälle abstreitet. Er sagt, je besser er die Familie kennengelernt habe, als desto skurriler habe er sie empfunden. "Ich sitze seit einem Jahr in Haft. Ich lese diese Dinge und weiß, dass sie nicht stimmen", sagte Florian K. auf die Vorwürfe in der Anklageschrift.
Das mutmaßliche Opfer, der damals neunjährige Junge der Familie aus Planegg, hat den 37-Jährigen schließlich im Januar 2024 angezeigt. Kommende Woche sollen dann die Mutter des Jungen sowie Menschen aus seinem Umfeld vor Gericht aussagen.
- Reporterin vor Ort