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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Vorhang fällt Das letzte Mal Kino am Sendlinger Tor: "Es tut mir in der Seele weh"
Das Kino am Sendlinger Tor muss nach über 100 Jahren schließen. Die Münchner trauern um eine Institution und teilen ihre Erinnerungen.
Die Schlange vor dem Filmtheater Sendlinger Tor wird am Mittwochnachmittag immer länger. Noch Minuten vor Filmbeginn stellen sich Menschen in die Reihe, um ein letztes Mal ein Ticket zu ergattern. Am Einlass steht der Betreiber Christoph Preßmar und reißt die Papiertickets ab. Sein Lächeln sitzt leicht schief, das Gesicht wirkt müde und erschöpft. Es ist eines der letzten Male, dass Preßmar Zuschauer in seinem Kino empfängt. Nach über 100 Jahren fällt im Filmtheater Sendlinger Tor am 15. Januar zum letzten Mal der Vorhang.
Es ist eine Ikone in München, die unbedingt erhalten werden muss.
Unternehmer Hubert Winkelhofer aus Gräfelfing
Nicht nur er und seine Familie, die 80 Jahre lang dieses für viele einzigartige Kino betrieben haben, sind traurig über das Aus. Viele langjährige Besucher stehen in der Schlange. Sie reicht bis zum U-Bahn-Eingang. Die Menschen sind gekommen, um noch einmal einen Film in einem Kino zu sehen, das in München längst zum Inventar gehört. Einer von ihnen ist der pensionierte Unternehmer Hubert Winkelhofer (74) aus Gräfelfing. "Es tut mir in der Seele weh", sagt er auf die Frage, wie es ihm mit der Schließung des Kinos geht.
"Es ist eine Ikone in München, die unbedingt erhalten werden muss." Nicht schon allein wegen seines Alters, sondern auch wegen seines Interieurs – "von der Toilette bis zur Bühne". Winkelhofer kam das erste Mal als Student in den 70er Jahren in das Kino am Sendlinger Tor. "Ich war oft hier, aber rückblickend viel zu wenig", sagt er mit einem Lächeln, das zugleich voller Bedauern ist. Das Kinoprogramm beschreibt er als "immer außergewöhnlich gut ausgewählt".
Wie ihm geht es vielen Münchnern. Egal, wen man in der meterlangen Schlange fragt, die Besucher sind sich einig: Mit der Schließung des Kinos geht ein Stück Kultur verloren. "Es ist eine Schande, dass das Kino geschlossen wird", sagt Heidi Königl aus Neuperlach. Für sie und ihre Freundin Renate Kronthaler aus Neuhausen gehe mit der Schließung "ein gutes altes Stück München verloren, das es so nicht mehr gibt". Auch sie empfanden die Auswahl der Filme als "exzellent". Für sie steht fest: "Es ist eines der schönsten Kinos Münchens."
Eine andere Besucherin in der Schlange verbindet viel mit dem Kino: "In meiner Jugend war ich öfter hier und habe viele Erinnerungen an schöne Kinonachmittage und -abende." Sie ist traurig, dass sie heute zum letzten Mal hier sein wird, denn "ein Stück Münchner Geschichte geht zu Ende. Und damit auch irgendwie meine Geschichte."
Auch das Münchner Ehepaar Messer trauert. "München verändert sich so sehr. Leider nicht zum Vorteil", sagt die Frau mit Blick auf das Kino. Ihr Mann ergänzt: "Die Stadt wird austauschbar." Immer mehr Leute mischen sich ein, teilen ihre Anekdoten mit dem Kino, das viel mehr ist als nur ein Ort zum Filmeschauen. Neben Trauer sind die Besucher vor allem auch wütend – auf die Besitzer des Hauses, die ihnen ein Stück von dem München nehmen, das immer mehr zu verschwinden scheint.
- Lesen Sie hier das mehr über die Schließung des Kinos
Der einzige Saal im Filmtheater ist am Mittwochnachmittag um 14 Uhr in der ersten der drei Vorstellungen gut gefüllt. Auf einem der roten, mit Samt bezogenen Sitze teilt eine weitere Besucherin ihre Erinnerungen an das Kino. "Ich bin vor 25 Jahren wegen der Arbeit nach München gekommen und das Kino ist mein schöneres Wohnzimmer", sagt sie. Sie beschreibt es als familiär, lobt die schöne Einrichtung. "Man merkt, dass es mit Liebe geführt wurde." Für sie steht fest: "So etwas wird es nie wieder geben. Ich finde es unendlich traurig und werde es sehr vermissen."
Kinobetreiber: "Es ist kein einfacher Tag heute"
Ähnlich geht es wohl auch Christoph Preßmar, dem Betreiber des Kinos. Bevor der Film um 14 Uhr beginnt, lässt er es sich nicht nehmen, noch ein paar Worte an das Publikum zu richten. Als er die Bühne betritt, applaudiert das Publikum ihm zu Ehren. "Es ist kein einfacher Tag heute. Aber nichtsdestotrotz haben wir die vergangenen 15 Jahre versucht, um das Haus zu kämpfen, und jetzt ist es leider vorbei." Er lacht verlegen, weiß nicht recht, was genau er sagen soll. "Es ist sehr schön, dass Sie heute da sind."
Die vergangenen Jahre seien schwierig und ein Auf und Ab gewesen. "Aber wir haben das hier gerne und von Herzen gemacht. Jetzt gehen wir hier erhobenen Hauptes raus und verabschieden uns so von der Branche." In den vergangenen Tagen zeigte sich noch einmal die Treue der Besucher: "In den letzten fünf Wochen haben wir über 16.000 Besucher gehabt. Das ist ein Corona-Jahr und spricht sehr dafür, dass wir das zusammen gut gemacht haben."
Nach zwei Stunden mit einem Film des Regisseurs Joseph Vilsmaier fällt der Vorhang im Kino am Sendlinger Tor das erste von drei letzten Malen an diesem Tag. Nach der Vorstellung bleiben die Leute noch ein bisschen auf ihren Plätzen sitzen. "Ich will nicht gehen", flüstert jemand. "Ich werde es so vermissen", sagt ein anderer. Auf dem Weg zum Ausgang stehen die Mitarbeiter und reichen bekannten Gesichtern die Hand, während sie sich mit den Worten "Danke für Ihre Treue" von ihren Besuchern verabschieden.
- Reporterin vor Ort