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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Charlotte Knobloch über Antisemitismus "Die Terroristen haben diesen Tag mit Gloria gefeiert"
Charlotte Knobloch ist eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust. Sie setzt sich seit Jahrzehnten für die jüdische Gemeinde ein. t-online hat mit ihr über den Terror der Hamas und die Situation der Juden in Deutschland gesprochen.
Seit nunmehr einem Jahr hat der Nahostkonflikt eine neue Eskalationsstufe erreicht – auch in Deutschland gibt es darüber heftige Auseinandersetzungen. Der Krieg zwischen der Terrorgruppe Hamas und Israel polarisiert, seitdem gibt es mehr und mehr Antisemitismus. Wie blickt jemand auf die Entwicklung, der bereits den Holocaust überlebt hat?
Die 91-jährige Charlotte Knobloch ist in München geboren und aufgewachsen. Den Nazis entkam sie im Versteck auf dem Land. Eine Zeit, in der sie mit Schweinen und Kühen redete, weil sie auf dem Hof als einziges Kind keine Gleichaltrigen zum Reden hatte. Knobloch hat die Stadt trotz des Holocaust nie verlassen, von Heimat konnte sie allerdings erst Jahrzehnte später sprechen. t-online hat sie zu einem Spaziergang durch München getroffen.
t-online: Ihre Kindheit haben Sie versteckt auf dem Land verbracht und so den Holocaust überlebt. Welche ist Ihre prägendste Erinnerung an diese Zeit?
Charlotte Knobloch: Ich erinnere mich ganz genau daran, wie ich als Kind aus dem Fenster beobachten konnte, wie meine Großmutter im Juli 1942 mit ihrem Koffer das Haus verließ. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ich bin froh, dass ich nicht noch mehr Furchtbares in dieser schrecklichen Zeit erleben musste, weil es Menschen gab, die ihr Leben riskiert haben, um meines zu retten. Aber dennoch war das eine der schlimmsten Erfahrungen in meinem Leben. Die trage ich immer mit mir herum.
Zur Person
Charlotte Knobloch wurde am 29. Oktober 1932 in München geboren. Seit 1985 ist sie Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, auf ihre Initiative geht etwa der Bau der Synagoge am Sankt-Jakobs-Platz zurück. Von 2006 bis 2010 war Knobloch zudem Präsidentin des Zentralrats der Juden.
Sie blicken auf ein langes Leben mit zahlreichen Krisen zurück. Empfinden Sie die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation dennoch als beispiellos?
Ich habe den Holocaust erlebt. Damals haben Menschen auch um ihr Leben gebangt und wurden ermordet. Für mich hat es sich am 7. Oktober genauso angefühlt. Es wurden Menschen umgebracht, die ihr Leben vor sich hatten, einfach, weil sie Israelis waren.
Der Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 jährte sich kürzlich zum ersten Mal. Wie blicken Sie auf diesen Tag?
Am 7. Oktober wurden Menschen buchstäblich aus dem Schlaf gerissen und ermordet, furchtbar entstellt oder vergewaltigt. Ich bin entsetzt und zermürbt, dass so ein Massenmord in der heutigen Zeit vor den Augen der Welt passieren konnte. Wenn mir das vorher jemand erzählt hätte, hätte ich ihn wirklich für verrückt gehalten. Und die Terroristen haben diesen Tag mit Gloria gefeiert. Das kann die jüdische Gemeinschaft natürlich nicht vergessen.
Der Nahostkonflikt und die Verantwortung gegenüber Israel trifft Deutschland besonders. Tut das Land genug für den Schutz Israels?
Nein. Das Mindeste, das ich erwarten würde, ist Neutralität – und auch das im Grunde nur von Staaten, die nicht eine Geschichte haben wie Deutschland. Deutschland hat eine Verantwortung, die es nicht auf die Seite legen kann: nämlich jüdischen Menschen in der heutigen Zeit zu helfen und sie zu unterstützen. Da reichen auch keine Feier- und Gedenktage.
Was wünschen Sie sich konkret von der Bundesregierung?
Ich würde mich sehr freuen, wenn sich etwa die Außenministerin mal Gedanken machen würde, in welcher Form sie dieses Thema zielführender ansprechen kann. Ich bin entsetzt, dass hier schon diese gewisse Neutralität, das Mindeste, was ich erwarte, zum Teil nicht vorhanden ist.
Anhänger der palästinensischen Seite argumentieren oft mit der jahrzehntelangen Unterdrückung ihres Gebiets und dass Israel einen Genozid im Gazastreifen durchführe. Haben Sie Verständnis für diese Argumente?
Ich kenne die Argumente. Ich glaube aber nicht, dass alle Araber beziehungsweise Arabischstämmigen selbst diese ganzen Dinge glauben, die man den Israelis vorwirft. Am Ende ist Krieg Krieg und keiner wünscht sich das, auf keiner Seite. Man hätte gegenseitig sicher auch mehr Rücksicht auf die vorhandenen Feindschaften nehmen können. Aber ich muss auch immer wieder sagen: Israel hat diesen Krieg nicht begonnen.
Israel kämpft inzwischen nicht nur gegen die Hamas, sondern auch gegen den Iran und den Libanon im Norden. Mit welchen Gefühlen nehmen Sie diese Entwicklung wahr?
Diese Entwicklung ist eine Katastrophe. Israel steht enorm unter Druck und versucht, das Beste aus einer unmöglichen Situation zu machen. Dafür hat das israelische Militär meinen größten Respekt. Ich wünsche dem Staat Israel und seinen Menschen, dass bald Frieden herrscht und dass alle verbliebenen Geiseln freikommen.
In Frankfurt wollte die Stadt eine palästinensische Demonstration am Montag verbieten, ein Gericht hat das in letzter Instanz verhindert. Halten Sie ein solches Verbot für sinnvoll?
Zu einhundert Prozent. Wir haben viele junge Menschen, die nichts von ihrer deutschen Vergangenheit wissen, die kaum etwas über Israel wissen. Auf der Straße werden oft Lügen verbreitet, und die Jugend ist dann leicht beeinflussbar. So etwas darf in einer Stadt wie München nicht passieren. Bei der aktuellen Gesetzeslage können wir uns nicht immer auf die Gerichte verlassen. Die richten sich nach Gesetzen, die vielleicht nicht ganz dem entsprechen, was wir uns wünschen und was notwendig wäre. Im Zweifel müssen neue Gesetze her – auch in Hinblick auf Deutschlands Ruf.
Am 5. September hat ein junger Österreicher auf das Israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum in München geschossen. Er war erst 18 Jahre alt und hatte sich im Internet radikalisiert. Blicken Sie mit Sorge auf die junge Generation?
Ja, absolut. Ich erlebe zwar in Gesprächen selbst immer viel Interesse und Neugier, aber wenn Menschen in der Öffentlichkeit so bösartig agieren, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sich junge Leute auch davon inspirieren lassen. Darum darf man solche Szenen gar nicht zulassen. Da muss man schon weiterdenken, besonders wenn man die Jugend vor sich hat.
Wie könnte in Ihren Augen ein Frieden im Nahen Osten entstehen?
Das ist sehr, sehr schwierig, besonders nach diesem Krieg. Man kann das Morden nicht vergessen.
Halten Sie die Zweistaatenlösung für realistisch?
Das Ideal sieht heute wahrscheinlich anders aus. Man kann vielleicht auch andere Wege gehen, aber ich bin in dieser Frage keine Expertin.
Sie haben München nie verlassen, bis auf diese Jahre, in denen sie auf dem Land gelebt haben. Ist die Stadt trotz allem Ihr Zuhause geblieben?
Sie war lange Zeit nicht mein Zuhause, es mussten erst ein paar Jahrzehnte vergehen. Erst bei der Grundsteinlegung für die neue Hauptsynagoge 2003 habe ich dann gesagt, dass meine Koffer jetzt endlich ausgepackt sind und ich angekommen bin.
Warum genau an diesem Tag?
Weil ich gesehen habe, dass wir die Möglichkeit haben, freundschaftlich mit den Menschen in unserer Umgebung umzugehen. Auch nach 1945.
Glauben Sie auch heute noch daran?
Selbstverständlich. Ich bin nicht der Mensch, der da aufgibt. Aber ich habe Verständnis für Menschen, die das tun. Und das sind nicht wenige.
Frau Knobloch, vielen Dank für das Gespräch.
- Gespräch mit Charlotte Knobloch