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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Jérôme Boateng ist vorbestraft Kein Lieblingsnachbar mehr
Wer Fußballer zu Symbolen macht, wird meistens enttäuscht. Mit Jérôme Boateng fällt einer der WM-Helden von 2014 hart. Das liegt nicht nur an der Vorstrafe.
Auf dem Höhepunkt seiner Popularität wurde Jérôme Boateng beleidigt. "So einen wie den" würden viele nicht als Nachbarn wollen, sagte 2016 Rechtspopulist Alexander Gauland, damals Sprecher der AfD. Gauland hatte, das merkte man dem Interview an, kaum eine Ahnung davon, wer Boateng überhaupt ist. Ihm reichte die Hautfarbe des Deutsch-Ghanaers, um zu urteilen. Gegen diesen Rassismus formierte sich damals eine große Welle der Solidarität an Boatengs Seite. Als "Lieblingsnachbar" bezeichneten manche den Fußballer damals. Und heute? Verkörpert er das, was viele tatsächlich nicht in der Nachbarschaft haben wollen.
Wird das Urteil von Mittwoch gegen den 34-jährigen Ex-Spieler des FC Bayern rechtskräftig, gilt er als vorbestraft. Weil das Landgericht München befindet: In einem Urlaub 2018 habe er seine damalige Freundin beleidigt und geschlagen. 1,2 Millionen Euro soll er zahlen, in 120 Tagessätzen.
Härteres Urteil für Jérôme Boateng in München trotz geringerer Geldstrafe
Es ist bereits das Urteil nach einer Berufung, die sowohl Verteidigung und Staatsanwaltschaft eingelegt hatten. Vor einem Jahr hätten es noch 1,8 Millionen Euro sein sollen. Doch weil nun mehr Tagessätze fällig sind, ist das Urteil sogar härter als zuvor; als Vorstrafe hatte der damalige Richterspruch nicht gegolten. Dass Boateng nun insgesamt dennoch weniger Geld zahlen soll, dürfte auch mit seinem Abstieg in den vergangenen Monaten zu tun haben.
Das Gericht solle bedenken, sagten seine Verteidiger, dass er all seine Werbeverträge verloren habe. Das Einkommen von Millionär Boateng, an dem das Gericht die Höhe einer Geldstrafe bemisst, dürfte in den vergangenen Monaten etwas geschrumpft sein. Noch mehr gelitten hat jedoch sein Ruf. Sogar sein Halbbruder Kevin-Prince möchte angeblich nichts mehr mit ihm zu tun haben, seinem Verein ist er peinlich.
"Der Klub schämt sich dafür", zitierte die "Bild" eine Mitarbeiterin von Olympique Lyon nach dem Urteil vor einem Jahr. Kurz zuvor hatte der einstige französische Serienmeister Boateng als neuen Star geholt, als Gesicht einer Werbekampagne. Damit endeten zehn meist erfolgreiche Jahre beim FC Bayern. Sein damit verbundener sportlicher Abstieg folgte zwar den Regeln der Branche – und muss für ihn dennoch besonders unangenehm gewesen sein.
Wie Jérôme Boateng vom FC Bayern zu Lyon wechselte
Schon 2019 wetterten die Chefs der Bayern gegen ihn, wollten ihn loswerden. Boateng, jahrelang bester Verteidiger des Teams, kam langsam in die Jahre, sein Körper war von Verletzungen geschunden. Nach dem WM-Debakel der Nationalmannschaft, die 2018 in der Vorrunde ausschied, schmiss Bundestrainer Joachim Löw ihn gemeinsam mit Mats Hummels und Thomas Müller aus dem Kader. Bayern wollte ihn regelrecht vom Hof jagen. Doch damals hatte der Sport noch ein überraschendes Hoch für Boateng parat.
Ein paar Verletzungen seiner Mitspieler spülten ihn wieder in die Startelf der Bayern, wo er gute Leistungen bot und bis zum Saisonende gesetzt blieb. Plötzlich war er Teil der erfolgreichsten Mannschaft, die der Verein je stellte: Sechs Titel holte er in einem Jahr, so viele wie nie zuvor. Boateng war wichtiger Teil davon. Ein Jahr später endete die Zeit in München dennoch. Im selben Jahr, als seine Ex-Freundin Suizid beging.
Das Model Kasia Lenhardt nahm sich im Mai 2021 das Leben, in den Jahren zuvor war sie mehrere Monate mit Boateng liiert. Restlos geklärt ist bis heute nicht, was dazu führte. In der Boulevardpresse war die Beziehung jedoch kurz zuvor weit ausgebreitet worden, Boateng gab ein Interview, in dem er Lenhardt scharf angriff. Wer weiß, welche Macht beliebte Profifußballer wie Boateng in sozialen Medien haben, der kann sich vorstellen, welche Flut an hässlichen Nachrichten Lenhardt erreicht haben dürfte.
Karriere von Jérôme Boateng bröckelt gleich doppelt
Und nun das Urteil wegen häuslicher Gewalt gegen eine weitere Ex-Freundin, mit der Boateng vor Lenhardt zusammen war. Er respektiere das deutsche Recht und verabscheue Gewalt gegen Frauen, sagte sein Halbbruder Kevin-Prince einst, ebenfalls langjähriger Bundesliga-Profi. Seine Konsequenz: "Ich identifiziere mich nicht mit den Taten meines Bruders und habe deshalb nichts mehr mit ihm zu tun."
Dabei war Jérôme Boateng sogar ein Symbol für ein offenes Deutschland, Hoffnungsträger für viele Schwarze Menschen, weil er es aus einfachen Verhältnissen in Berlin zu einem der berühmtesten und beliebtesten Menschen des Landes geschafft hatte. Doch wie Mesut Özil, der einst als Vorbild in Sachen Integration für viele Deutsch-Türken galt und dann Wahlkampf für den islamistischen und autokratischen türkischen Präsidenten Erdoğan machte, oder Franz Beckenbauer, der sich in wenigen Jahren von der scheinbaren Lichtgestalt zum wohl korrupten Fifa-Funktionär wandelte, enttäuschte Boateng viele Erwartungen, letztlich sogar die niedrigsten.
Wie Jérôme Boateng aus dem Prozess in München hervorgeht
Der Prozess in den vergangenen Wochen dürfte Boatengs Ruf weiter beschädigt haben. Nicht zuletzt seine Verteidiger trugen massiv dazu bei, viele Details aus der Beziehung mit seiner Ex-Freundin vor Gericht und damit vor der Öffentlichkeit auszubreiten. Das schadete nicht nur ihr, sondern auch Boateng selbst. Seine Sicherheitsleute filmten Zeugen vor dem Gerichtssaal, sie fühlten sich bedroht.
Boateng wurde sogar zum Ziel von spöttischen Bemerkungen des Richters: Eine Verteidigung sei auch mal am Ende, das müsse der Verteidiger Boateng schließlich wissen. Und den Urlaub, den habe es 2018 nur gegeben, weil Boateng schon in der Vorrunde der WM ausschied, sagte er.
- Eigene Recherchen
- Reporterin vor Ort