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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vor Ort im Unglücksort Ausnahmezustand bei Garmisch: "Keiner wusste, was los ist"
Auch Stunden nachdem die Regionalbahn bei Garmisch-Partenkirchen entgleist war, wird am Unfallort gearbeitet. Die Bergungsarbeiten werden am Samstag fortgesetzt. Einsatzkräfte und Anwohnende berichten t-online vor Ort vom Unglück.
Herbert Maurus ist ein erfahrener Mann. Mit grauem Schnauzbart, die Hände hinterm Rücken verschränkt und die Augen leicht zusammengekniffen, steht der Kreisbrandinspektor vor dem Zug, der am Mittag aus Garmisch-Partenkirchen nach München aufbrach und nur drei Kilometer weit kam, und beantwortet die Fragen der Reporter.
Er hat schon viel gesehen, es ist nicht sein erstes Zugunglück. "Man denkt da eigentlich gar nichts", sagt er. "Das Chaos haben wir schnell bewältigt, und dann funktioniert man nur." Aber eines will er klarstellen: "Routine ist das natürlich nicht", sagt er im Gespräch mit t-online. "Wann hat man so etwas schon?"
Zum Glück fast nie, ist die nicht ausgesprochene Antwort auf die rhetorische Frage. Am Abend des Unglücks scheint klar: Dieser Unfall stellt Garmisch auf den Kopf. Erst in dem Moment, in dem die Regionalbahn entgleist und mindestens vier Menschen in den Tod reißt. Dann in den Stunden und Tagen danach, in denen die Einsatzkräfte auf Hochtouren arbeiten. Und wohl auch in den kommenden Wochen oder Monaten, die die Gemeinde an der Zugspitze vom Bahnverkehr aus dem Norden abgeschnitten werden bleibt.
Garmisch: Opfer waren noch Stunden nach dem Unglück eingeklemmt
Einige Stunden ist es schon her, dass die Bahn entgleist ist, noch immer arbeiten die Rettungskräfte daran, eingeklemmte Opfer aus den Trümmern zu befreien. Martin Emig, Pressesprecher der Polizei vor Ort, schließt auch Schlimmeres nicht aus: "Wir wissen nicht, ob sich unter den Trümmern weitere Opfer befinden", sagt er.
Die Bahnstrecke nach München ist gesperrt, wie auch die Autobahnstrecke direkt neben den Gleisen. Die Fahrbahn wird gebraucht, um die Opfer zu retten und die Bahn zu sichern. Wer Garmisch-Partenkirchen erreichen will, braucht zum Auftakt des Pfingstwochenendes viel Zeit und starke Nerven im Stau.
Ausnahmesituation am Bahnhof: "Keiner wusste, was los ist"
"Kurz nach dem Unfall war auf einmal alles voll", berichtet Frank Scheven, der in der Buchhandlung im Bahnhof arbeitet. "Die Bahn-Mitarbeiter sind umhergelaufen, keiner wusste, was los ist." Aber wem wolle man das vorwerfen in dieser Ausnahmesituation, schließt er an. Ein Mann sei ins Geschäft gekommen, sein Sohn war an Bord des Unglückszuges, erzählt Scheven. Dem Jungen sei nichts passiert – aber die Eindrücke blieben ein Leben lang.
So geht es vielen der meist noch jungen Passagiere an Bord. Der Sohn habe von einem Mädchen mit einem abgetrennten Bein erzählt, das er gesehen habe. Scheven braucht es nicht einmal auszusprechen: Das wird der Junge nicht vergessen. Und was die Menschen am Unglücksort auch beschäftigt und beschäftigen wird, ist die Frage, wie es zu dem Unglück kommen konnte.
Polizei: Unfall auf eigentlich ungefährlicher Strecke
Er kenne die Strecke, sagt Scheven, sei jahrelang auf ihr gependelt. Gefährlich sei sie nicht, die Kurve nicht riskant. So schildert es auch die Polizei. Pressesprecher Emig sagt zudem, eine Kollision habe es ebenfalls nicht gegeben. Die Unfallursache bleibt zunächst ein Rätsel.
Vor Ort blicken die Rettungskräfte auf ein Trümmerfeld. Drei der fünf Wägen sind vom Bahndamm gerutscht, einer hängt von den Gleisen herab, die anderen beiden sind verdeckt im Graben. Wie die Einsatzkräfte vor Ort schildern, liegen sie dort kopfüber und sind aus der Ferne nicht zu erkennen. Die Gleise seien durch die Wucht des Unfalls stark verbogen. Das unmittelbare Umfeld der Unfallstelle ist nicht einmal der Presse zugänglich, auch drum herum ist kilometerweit alles abgeriegelt.
In diesem Bereich liegt ein Fastfood-Restaurant, in dem Mohammad Rayan Al Bakr als Schichtleiter arbeitet. Ihn erinnert der Unfall an seine Heimat, er ist aus Syrien nach Deutschland geflohen, sagt er. Seine Schicht am Freitag begann, als der Unfall schon passiert war. Mit dem Gedanken an Tote und Verletzte sei er zur Arbeit gefahren, bedrückt. Die Kollegen aus der Frühschicht hätten dann ihre Eindrücke geschildert.
Berichte von abgetrennten Gliedmaßen und traumatisierten Kindern
Insassen aus dem Zug seien vorbeigekommen, hätten gegessen und getrunken. Unter Schock stehende Kinder, traumatisiert von dem, was sie gesehen haben – das war Al Bakr aus Deutschland nicht gewohnt. An diese Kinder denke er nun. Einige Stunden nach dem Unglück ist in seinem Restaurant nichts mehr los. Abgesperrt vom Straßenverkehr kommen nur noch vereinzelt Einsatzkräfte, um sich etwas zu essen zu holen.
Normalerweise wäre der Ort an diesem Wochenende voll mit Wanderern oder Touristen. Mit den Ferien hätte das 9-Euro-Ticket viele Menschen mit der Regionalbahn nach Garmisch-Partenkirchen bringen sollen. In Bayern haben am Freitag die Pfingstferien begonnen, besonders für die meisten Insassen im Zug. Viele der 140 Menschen waren Schüler, nach dem frühen Schulende auf dem Weg nach Hause. Auch der Unglückszug war als Verstärker für das erhöhte Aufkommen eingesetzt, wie ein Bahn-Sprecher erzählt. Doch daraus wird nun nichts.
Denn von Ferienstimmung ist in Garmisch nichts zu spüren: keine Staus an den Ampeln, vielleicht ein Dutzend Wartende in der Bahnhofshalle, viele Geschäfte sind geschlossen.
Es zeugt von Pietät, dass an diesem Tag in Garmisch niemand darüber redet, was das für den Ort bedeutet, wenn hier die Zufahrt gesperrt ist, am Bahnhof kaum Züge ankommen. Doch es ist Ferienzeit, das Thema wird die Stadt noch einholen. Es wird gerätselt werden: Wie konnte das passieren? Und der 3. Juni 2022 wird ein historischer Tag für den Ort bleiben: Der Tag, an dem mindestens vier Menschen in einem Zug ihr Leben verloren.
- Gespräche mit Menschen vor Ort
- Gespräch mit Kreisbrandinspektor
- Gespräch mit Polizeisprecher