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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rechtsanwältin von Justizopfer "Ein Justizdrama in fünf Akten"
Manfred Genditzki (64) saß mehr als 13 Jahre unschuldig im Gefängnis. Das ist kein Einzelfall. Seine Anwältin sieht den Fehler bei der Justiz.
Wenn ein Gericht erst einmal entschieden hat, dass jemand des Mordes schuldig ist, dann ist das meist unumkehrbar. Dabei kommt es selbst bei Mordprozessen immer mal wieder zu Fehlurteilen. Das zeigt der Fall Manfred Genditzki. Als "Badewannen-Mord" ging er durch die Presse. Über 13 Jahre saß der heute 64-Jährige unschuldig im Gefängnis.
Seine Anwältin Regina Rick kämpfte jahrelang für seine Freilassung – und hatte am Ende Erfolg. Die Dramaturgie dieses Falls teilt sich für Rick in fünf Akte: Von zwei Verhandlungen wegen Mordes, bei denen ihr Mandant schuldig gesprochen wurde, über die Ablehnung des Wiederaufnahmeverfahrens bis hin zum letztendlich geglückten Wiederaufnahmeverfahren, das mit dem Freispruch für ihren Mandanten endete. Wie es zu dem falschen Urteil kommen konnte und welche Missstände sie in der Strafjustiz sieht, erzählt die Strafverteidigerin im Interview.
t-online: Wenn Sie dem Genditzki-Prozess, auch als "Badewannen-Mord" bekannt, einen Filmtitel geben müssten, wie würde er lauten?
Regina Rick: "Das Desaster" und als Untertitel "Ein Justizdrama in fünf Akten".
Was ist das Desaster?
Nach dem Fall Rudolf Rupp dachte ich eigentlich, das muss ein Einzelfall sein, so häufig wird das nicht passieren. [Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Fall soll der Bauer Rudolf Rupp 2001 von seiner Ehefrau, seinen beiden Töchtern sowie seinem Schwiegersohn getötet und zerstückelt worden sein. Fünf Jahre später wurde sein Leichnam aus der Donau geborgen.] Und jetzt merke ich, wie fehleranfällig die (bayerische) Strafjustiz wirklich ist. Das habe ich aus diesem Verfahren gelernt: Es gibt viel mehr unschuldige Verurteilte, als man meinen würde. Das Misstrauen der Strafjustiz gegenüber war schon immer stark bei mir, aber dieser Fall hat es noch vertieft.
Wie kommt es Ihrer Meinung nach immer wieder dazu, dass unschuldige Menschen wie Manfred Genditzki zu Justizopfern werden?
Das ist eine psychologische Frage. Es passiert etwas Tragisches, und dann muss es einen Schuldigen geben. Im Fall vom Herrn Genditzki wollte eine Polizeibeamtin wohl Sherlock Holmes spielen, und dann hat sie sich in die Vorstellung verbissen, dass das ein Tötungsdelikt ist. Ich sag' immer spaßeshalber, dass die bayerische Polizei bei Tötungsdelikten eine Aufklärungsquote von über 100 Prozent hat, weil die sogar Tötungsdelikte aufklären, die gar keine sind (lacht). Sie merken, ich bin schon ein bisschen sauer, vor allem, weil sich nichts ändert.
Was müsste sich denn ändern, damit Angeklagte nicht zu Justizopfern werden?
Viel. Als Erstes müsste das Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz endlich kommen. In diesem Land werden Menschen ihr Leben lang eingesperrt, ohne dass ein Wort von dem, was Zeugen oder Sachverständige sagen, im Protokoll steht. Dann müsste es mehr Sanktionen für die Verantwortlichen geben.
Es gibt einfach keine wirksame Kontrollinstanz im deutschen Strafprozess.
Regina Rick, Rechtsanwältin
Aber es gibt doch Mittel und Wege zur Kontrolle von Strafverfahren. Am Amtsgericht kann man Berufung und Revision einlegen. Am Landgericht und Oberlandesgericht gibt es eine Kammer mit mehreren Richtern als Kontrollinstanz.
Diese Kontrollinstanzen gibt es faktisch nicht. Stattdessen gibt es Schulterschluss-Effekte, also dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter einen Korpsgeist bilden. Sie gegen den Rest der Welt. Die Bösen sind natürlich der Angeklagte und sein Verteidiger. Und der Bundesgerichtshof ist schon mal gar kein wirksames Regulativ, weil er seine Entscheidungen nicht mal begründen muss. Es gibt einfach keine wirksame Kontrollinstanz im deutschen Strafprozess.
Manfred Genditzki und der "Badewannen-Mord"
2008 wurde der heute 64-Jährige beschuldigt, in Rottach-Egern am Tegernsee eine Seniorin in ihrer Badewanne ertränkt zu haben. 2010 wurde er wegen Mordes schuldig gesprochen. Der Bundesgerichtshof hob damals das Urteil wegen eines Verfahrensfehlers auf – und verwies den Fall zurück an das Landgericht München II. Auch in zweiter Instanz war die Kammer davon überzeugt, dass Genditzki im Oktober 2008 die Rentnerin Lieselotte Kortüm aus Rottach-Egern in ihrer Badewanne ertränkt habe. 2012 ist Manfred Genditzki dann vor dem Landgericht München II wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. In einem Wiederaufnahmeverfahren wurde er im Juli 2023 vor dem Landgericht München I schließlich von dem Vorwurf des Mordes freigesprochen.
Wann haben Sie gemerkt, dass in diesem Verfahren irgendwas nicht stimmt?
Schon als ich das Urteil gelesen habe. Das konnte zeitlich gar nicht hinhauen. Und dann habe ich die Akten angeschaut und gesehen, dass die Leiche noch ziemlich frisch war. Ich habe immer gedacht: Man hat doch die Leichentemperatur und die Wassertemperatur zu einem bestimmten Zeitpunkt, da muss man doch irgendwie die Umgebungstemperatur ausrechnen können. Das kann man, wie sich herausgestellt hat, auch, und zwar mit einer einfachen physikalischen Formel, und dann konnte man den Todeszeitpunkt eben doch eingrenzen. Das hat den Herrn Genditzki dann auch entlastet.
Zum Glauben kann ich in die Kirche gehen, aber wenn man jemanden sein Leben lang einsperrt, sollte man nicht nur glauben.
Regina Rick, Rechtsanwältin
Aber es gibt doch einen Gerichtsmediziner. Wusste der das nicht?
Nein, der wusste das nicht. Wir alle haben übersehen, dass es ein physikalisches Problem war. Deswegen glaube ich auch, dass man die Naturwissenschaften viel mehr in die Strafverteidigung einbinden muss. Die sind auch viel unbestechlicher als richterliche Überzeugungen. Der Richter muss nach Paragraf 261 der Strafprozessordnung ja nur glauben, dass jemand schuldig ist. Zum Glauben kann ich in die Kirche gehen, aber wenn man jemanden sein Leben lang einsperrt, sollte man nicht nur glauben.
Haben Sie, als Sie den Fall übernommen haben, daran geglaubt, dass Ihr Mandant freigesprochen wird?
Ich hab von Anfang an daran geglaubt, dass er unschuldig ist. Aber ich hab nicht geglaubt, dass die Wiederaufnahme durchgeht. Das zu schaffen, ist sehr schwer. Fast unmöglich. Außer der angeblich Getötete spaziert lebend bei der Staatsanwaltschaft rein (lacht). Deshalb kann man gar nicht glauben, dass man das schafft.
Sie haben es trotzdem hinbekommen.
Als ich dann den Wiederaufnahmeantrag nach einem jahrelangen Kampf endlich fertig hatte, da wusste ich: Den konnte man nicht ablehnen. Aber das Landgericht München I hat ihn trotzdem abgelehnt. Das OLG hat dann zum Glück der sofortigen Beschwerde stattgegeben und das Ganze kam ins Rollen. Die Kammer war dann auch in der Lage, ihre Ansicht zu ändern und hat den Herrn Genditzki letztlich wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Soweit ich weiß, ist es noch nie vorgekommen, dass jemand zweimal zu lebenslanger Haft verurteilt und dann wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde.
Ihr Mandant hat kürzlich den Freistaat auf 750.000 Euro verklagt, weil er über 13 Jahre unschuldig im Gefängnis saß. Jetzt soll Herr Genditzki 100.000 Euro für Kost und Logis für seine Zeit im Gefängnis zahlen. Ein schlechter Scherz?
Das ist unverschämt. Die Beamten, die das verbrochen haben, müssen sich auch nichts von ihren Bezügen abziehen lassen. Die Generalstaatsanwaltschaft verbreitet anscheinend, dass das zwingend ist. Aber das stimmt einfach nicht. Das, worauf die sich beziehen, sind Richtlinien, die erstens nicht zwingend sind und zweitens, nach denen im Einzelfall entschieden wird. Da ist wieder bewusst eine Entscheidung zu seinen Ungunsten getroffen worden. Aber das wundert mich nicht wirklich, denn derselbe Staatsanwalt, der sich jahrelang gegen die Wiederaufnahme gesperrt hat, ist der Sachbearbeiter für dieses Entschädigungsverfahren.
Ich finde, 750.000 Euro Schmerzensgeld sind wirklich nicht viel für ein verlorenes Leben.
Regina Rick, Strafverteidigerin
Kann Geld einen Justizfehler dieser Größenordnung entschädigen?
Nein. Das ist ja ein Witz. Ich finde, 750.000 Euro Schmerzensgeld sind wirklich nicht viel für ein verlorenes Leben. In anderen Ländern bekommt man Millionen für so was. Und was wirklich zynisch daran ist: Sie bestreiten, dass der Knastaufenthalt für den Herrn Genditzki irgendwelche psychischen und körperlichen Folgen hatte. Da könnte ich mich aufregen, dass da kein Gespür dafür da ist, wie man sich in solch einer Sache verhält. Ich hab dem Rechtsanwalt, der den Freistaat Bayern vertritt, entgegnet, dass er sich doch selbst mal in eine 40 Grad heiße Zelle mit anderen Gefangenen setzen soll. Dann wird er nicht mehr bestreiten, dass das Folgen hat.
Zur Person
Regina Rick ist Fachanwältin für Strafrecht und für Verkehrsrecht. Spezialisiert ist sie auf Wiederaufnahmeverfahren. Bekannt wurde sie durch den Fall Rudolf Rupp. Manfred Genditzki hat sie seit Ende 2012 im Wiederaufnahmeverfahren vertreten. Im Juni 2019 wurde der Antrag auf Zulassung der Wiederaufnahme beim Landgericht München I eingereicht. Am 12. August 2022 wurde er aufgrund des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens aus der Haft entlassen. Am 7. Juli 2023 wurde Manfred Genditzki freigesprochen.
Sie haben Ihren Mandaten so viele Jahre in diesem Fall unterstützt. Wie geht es Ihnen jetzt damit, dass Sie ihn bald nicht mehr vertreten werden?
Er ist einer der wenigen Mandanten, mit denen ich einen persönlichen Kontakt habe. Wir sind halt einen langen Weg zusammen gegangen. Wir werden sicher weiterhin Kontakt halten. Aber ansonsten wäre ich schon froh, wenn das mal zu Ende gehen würde. Das ist einfach zu lang für ein Mandat. Traurig bin ich nicht (lacht).
Welchen Tipp würden Sie Kollegen geben, die ein Justizopfer verteidigen?
Nie aufgeben. Es gibt da ja so einen Spruch: "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren."
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Rick.
- Interview mit der Strafverteidigerin Regina Rick