München Polizist kniet auf Mann: Angeklagter bestreitet Angriff
Ein Mann liegt auf dem Boden, umringt von Polizisten. Immer wieder schreit er "Hilfe, Hilfe!" und stößt Geräusche aus, die wie ein Röcheln klingen. Ein Beamter hält ihn am Boden, scheint sich dabei auf den Hals des Mannes zu knien.
Die Szene ereignete sich im Februar 2020 an der Münchner S-Bahn-Station Isartor, sie ist festgehalten im Video aus der Bodycam einer Polizistin. Seit diesem Freitag hat sie ein gerichtliches Nachspiel - allerdings nicht für den Beamten. Vor dem Amtsgericht München muss sich der 54-Jährige verantworten, der am Bahnsteig von den Kräften der Bundespolizei niedergerungen wurde. Der Mann bestreitet die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft.
Denen zufolge war er in einer S-Bahn von Kontrolleuren konfrontiert worden, weil er ein mutmaßlich ungültiges Ticket dabeihatte. Er habe einen von ihnen als "Nazi und Rassist" beleidigt. Nachdem die Ausweisprüfer mit ihm an der Station Isartor ausgestiegen waren und die Polizei riefen, sei der Mann gewalttätig geworden.
Beim Eintreffen der Bundespolizei sei es zu einer Rangelei gekommen. Der Angeklagte habe zu Boden gebracht und von fünf Beamten festgehalten werden müssen. Er habe einer Polizistin ins Gesicht geschlagen und in die Hand gebissen, zuvor zudem dem Kontrolleur in den Arm. Die Anklage lautet unter anderem auf Körperverletzung, Beleidigung und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte.
In einer Erklärung, die sein Anwalt David Mühlberger verliest, klingt der Vorgang deutlich anders. Demnach griff ihn einer der Kontrolleure nach der Kontrolle grundlos auf dem Bahnsteig an. Er habe den späteren Angeklagten gegen eine Wand gedrückt und in den Bauch geschlagen. Schließlich seien die Polizisten hinzugekommen, die ihn ohne Anlass zu Boden gebracht hätten und ihm so auf Brustkorb und Hals gedrückt hätten, "dass ich fast erstickt bin". Wegen des Vorfalls sei er psychisch geschädigt und könne nicht mehr arbeiten. Als das Video aus der Bodycam im Gerichtssaal vorgespielt wurde, hielt er sich die Ohren zu und schaute weg.
Der Bundespolizist, der ihn auf dem Bahnsteig festgehalten hatte, sagte als Zeuge vor Gericht aus, er könne sich nicht erinnern, ob er das Knie auf die Halsregion setzte. Er habe den Mann fixieren müssen, weil er sich sehr aggressiv verhalten habe.
Ein Sprecher der Bundespolizeidirektion München verteidigte den Einsatz gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Es handle sich um ein "Ablegen des Schienbeins", das in der Aus- und Fortbildung vermittelt werde. Dabei werde kein Druck auf den Hals ausgeübt, sodass Atmung und Kreislauf nicht beeinträchtigt würden.
Nachdem das Nachrichtenmagazin "Focus" im Juli dieses Jahres das Video aus der Bodycam veröffentlicht hatte, teilte die Staatsanwaltschaft München I mit, das Vorgehen der Bundespolizei überprüfen zu wollen. Es handle sich um Vorermittlungen, um zu klären, ob ein Verfahren eingeleitet wird.
In der Verhandlung wurde auch einer der Fahrausweisprüfer befragt, der zunächst bestätigte, dass der Angeklagte zuerst aggressiv geworden sei. Kurz darauf verstrickte er sich jedoch immer weiter in Widersprüche. Schließlich gab er an, dass sein Kollege den Mann tatsächlich gegen einen Pfeiler gedrückt und in Richtung seines Bauchs geschlagen habe. In einem schriftlichen Protokoll hätten die beiden Kontrolleure den Angriff absichtlich verschwiegen.
Das Material erinnert auf den ersten Blick - auch wenn die Folgen nicht zu vergleichen sind - an den tödlichen Polizeieinsatz gegen George Floyd in den USA, der eine Welle des Entsetzens und große Proteste ausgelöst hatte. Floyd war im Mai vergangenen Jahres in Minneapolis bei einem brutalen Polizeieinsatz getötet worden. Ein Polizist presste dabei sein Knie gut neun Minuten lang auf Floyds Hals, während dieser rief, er könne nicht atmen. Floyd verlor das Bewusstsein und starb wenig später. Der Polizist wurde zu 22 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Auch in Deutschland sind Fälle von mutmaßlicher oder tatsächlicher Polizeigewalt immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Im Februar gab das Stuttgarter Verwaltungsgericht etwa der Klage eines Flüchtlings teilweise statt, nachdem Polizisten 2018 in sein Zimmer in einer Erstaufnahmeeinrichtung eingedrungen waren und ihn gewaltsam auf den Boden gefesselt hatten. Einsätze der Polizei bei Berliner Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen riefen zudem den UN-Sonderberichterstatter für Folter auf den Plan, der wegen mutmaßlicher übertriebener Gewaltanwendung eine Stellungnahme der Bundesregierung anforderte.
Weitere Erkenntnisse über das Geschehen am Münchner Bahnsteig sollen unter anderem Videos von Überwachungskameras liefern. Von deren Material fehlt laut Verteidiger Mühlberger bislang eine Viertelstunde, in der der mutmaßliche Angriff der Ticketkontrolleure zu sehen sein soll. Das Verfahren wird Anfang September fortgesetzt.