Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zehn Meter über dem Boden Wenn Künstler und Klavier am Kran baumeln
Ein Schweizer Künstler hängt samt seinem Klavier an einem Kran. Zehn Meter über dem Boden. Für 45 Minuten steht München still.
Es ist 6.11 Uhr am Freitagmorgen. München erwacht langsam zum Leben, die ersten Pendler sind bereits auf dem Weg zur Arbeit und am Ostbahnhof öffnen schon die ersten Geschäfte ihre Türen. Ein paar hundert Meter weiter steht die Welt für 45 Minuten still. Auf dem künftigen Baugrundstück des Konzerthauses, mitten im Werksviertel-Mitte, hängt ein Mann samt Klavier an einem Kran. Zehn Meter über dem Boden schwebt er in der Luft. Die einzige Lichtquelle ist sein Instrument, das mit seinem orangefarbenen Schein einen starken Kontrast zu dem noch fast schwarzen Himmel bietet.
Der Mann, der hier hängt, ist Alain Roche. Der 51-Jährige ist ein Künstler aus der französischen Schweiz, der für ein halbes Jahr auf dem Gelände seine Konzerte gibt. Pünktlich um 6.11 Uhr fährt der Kran das Klavier samt Künstler Meter für Meter in die Vertikale. Nach zehn Metern stoppt er. Die Zuschauer, die eingemummelt in Decken auf den Stühlen sitzen, schauen gebannt gen Himmel. Sie alle tragen schwarze Kopfhörer, über die sie die Klavierklänge empfangen.
Es regnet und stürmt, doch das scheint die Anwesenden nicht zu stören. Viel zu gebannt sind sie von dem Mann, der hoch oben in der Luft musiziert. Alain Roche stört es auch nicht, denn er ist mehrfach gesichert. Eine Kranfahrerin, die die Auf- und Abfahrt regelt, ist ebenfalls vor Ort.
Hinter den Zuschauern, versteckt in einer Art Container, sitzt Pablo Diserens. Denn nicht nur Klaviertöne, sondern auch Naturgeräusche sind Teil des Konzerts. Die Geräusche werden über hochsensible Mikrofone aufgenommen. 40 Stück sind in ganz Bayern verteilt. Eines ist bei einer Wetterstation auf der Zugspitze installiert, eins im Nationalpark Bayerischer Wald und wieder ein anderes in einem Schweizer Gletscher. Teilweise haben Roche und Diserens sie vorab auch in der Erde oder unter Wasser platziert.
Diserens entscheidet, welche Töne aus der Natur die Besucher zusätzlich zu Roches Klaviermusik hören. Und darauf basierend entscheidet der Schweizer, welche Teile des Stücks er passend dazu spielt. Ein Knacken hier, ein Rauschen da. Mal schreit ein Tier, dann wieder ist das Geräusch undefinierbar.
Je länger Alain Roche spielt, desto mehr verlieren sich die Zuhörer in seiner Musik. Die Grenze zwischen Stadt und Natur geht fließend ineinander über. Und genau das möchte der Künstler mit seinem Konzert erreichen: Die Geräusche der Natur in den städtischen Raum bringen. Während der 51-Jährige bei seiner Klavierperformance zwischen schnellen und langsamen, selbst komponierten Stücken wechselt, erwacht der Tag langsam zum Leben. Minute für Minute weicht der dunkle Nachthimmel dem Morgengrauen.
An diesem Freitagmorgen spielt der Künstler sein 64. Konzert unter dem Namen "When the sun stands still". Insgesamt sind es 182. Die Premiere war bereits am 22. Dezember 2023 – pünktlich zum Beginn der Wintersonnenwende. Mit der Sommersonnenwende am 20. Juni wird das einzigartige Konzerterlebnis nach einem halben Jahr enden. Doch Alain Roche ist nicht zum ersten Mal in München. 2020 spielte er während des Festivals Out Of The Box im Werksviertel-Mitte.
Die Kriterien, nach denen Alain Roche vorgeht, wenn er die Anfangs- und Endzeiten für seine Konzerte bestimmt, folgen einem bestimmten Rhythmus. Zeit und Dauer seiner Konzerte macht der Künstler von der elliptischen Umlaufbahn der Erde abhängig. Die Blaue Stunde, die sich Roche für seine Konzerte ausgesucht hat, beginnt dann, wenn sich die Sonne zehn Grad unter dem Horizont befindet. Sobald sich die Sonne dann zweieinhalb Grad unter dem Himmel befindet, weicht die Blaue Stunde der Goldenen Stunde. Und damit endet dann auch das Konzert des Künstlers, der auch als "Piano Vertical" bekannt ist.
Konzert ist jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit
Von wann bis wann die Blaue Stunde dauert, hängt ganz davon ab, wo man sich gerade befindet. Für den Münchner Standort im Werksviertel-Mitte hat der 51-Jährige ganz genau berechnet, wann seine Konzerte beginnen und enden müssen. Am Freitag, 23. Februar, erklingt um 6.53 Uhr zum letzten Mal für diesen Tag ein Ton auf dem schwebenden Klavier.
Und auf einmal ist man zurück im Hier und Jetzt. Alain Roche lässt seine Arme fallen, kraftlos hängen sie links und rechts von seinem Körper herab. Langsam setzt sich der Kran in Bewegung und fährt den Künstler samt seinem Klavier in Richtung Boden. Die Zuschauer sind noch immer regungslos, so als müssten sie erst einmal begreifen, was in der vergangenen Dreiviertelstunde geschehen ist. Erst ist der einsetzende Applaus zögerlich. Dann wird er immer lauter. Er hält selbst dann noch an, als Roche den Gang zwischen den Stühlen entlang läuft und sich bescheiden lächelnd bei seinen Zuhörern bedankt.
Künstler will Perspektive auf die Dinge ändern
Mit seinem außergewöhnlichen Konzert möchte Roche die Perspektive auf die Dinge ändern, wie er im Gespräch mit einer t-online-Reporterin erzählt. "Eine Sache ist nicht nur eine Sache", so der Künstler. Indem er sein Klavier anders ausrichte, habe er selbst die Möglichkeit, das Alltägliche neu zu entdecken. "Es ist verrückt", antwortet er auf die Frage, wie es sich anfühlt, zehn Meter über dem Boden Klavier zu spielen. "Aber es ist auch irgendwie normal", sagt Roche und lacht. Schließlich ist es das 64. Konzert dieser Art, das er gespielt hat.
Für Alain Roche sei das Schönste an dem Projekt die langsame Transformation des Himmels. "Der Prozess, wenn sich der Himmel ständig verändert, von schwarz zu blau wird", so Roche. Aber auch die Geräusche aus der Natur spielen für ihn eine zentrale Rolle. Denn je nachdem, welche Geräusche Pablo Diserens heraussucht, reagiert Alain Roche spontan auf dem Klavier. "Meine Musik ist jeden Tag anders, weil sich auch die Geräusche aus der Natur täglich ändern", erklärt der Künstler das Konzept.
Alain Roche: "When the sun stands still"
Die Konzerte finden täglich statt. Am 20. Juni, pünktlich zur Sommersonnenwende, wird der Künstler zum letzten Mal im Werksviertel-Mitte performen. Da die Zeiten jeden Tag früher werden, beginnt das Konzert dann bereits um 3.53 Uhr und endet um 4.56 Uhr. Der Eintritt ist frei wählbar. Wer sich also überwinden kann, zu solch früher Stunde aufzustehen, der wird nicht enttäuscht werden.
- Reporter vor Ort
- Interview mit Alain Roche
- Pressemitteilung: When the sun stands still (Stand: Januar/Februar 2024)