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Zum journalistischen Leitbild von t-online.In München steigt die Inzidenz rasant Wieso Corona zur Wiesn fast keinen interessiert
Die Wiesn dürfte zum größten Infektionsherd der gesamten Pandemie in Deutschland werden. Warum tut niemand etwas?
In nur wenigen Tagen hat sich die Corona-Inzidenz in München etwa vervierfacht. Dass die Entwicklung mit dem nun zu Ende gehenden Oktoberfest zusammenhängt, liegt nahe. Und nun passiert? Nichts. Das Fest geht weiter, Corona-Regeln gibt es weiterhin keine, und auch Oppositionspolitiker fordern, wenn überhaupt, nur verhalten Maßnahmen gegen den riesigen Infektionsherd. All das wäre vor einigen Monaten noch unvorstellbar gewesen.
Doch wer glaubt, in München und Bayern würden die steigenden Infektionszahlen ignoriert, der irrt. Ganz im Gegenteil: Die Entwicklung wurde erwartet und in Kauf genommen. "Natürlich werden die Zahlen zum Ende der Wiesn hin steigen", sagte etwa Oktoberfest-Chef Clemens Baumgärtner im Gespräch mit t-online. Und: "Das war allen Beteiligten im Vorfeld des Oktoberfestes klar", heißt es seitens des Universitätsklinikums München auf t-online-Anfrage.
Oktoberfest in München wird zum Infektionsherd
Eine Massenveranstaltung bei Rekordinzidenzen: Das klingt nach einem krassen Sinneswandel in dem Bundesland, in dem im März 2020 noch am schnellsten und härtesten gegen die Pandemie agiert wurde und eben das Oktoberfest – anders als etwa der Karneval im Rheinland – in Folge zweimal ganz ausfiel.
Doch was sich eigentlich verändert hat, ist das Virus. Das ist zumindest ganz offenbar die Einschätzung der Verantwortlichen – von der Bundesregierung, die das Fest zulässt, bis hinunter zur Stadt München, die es organisiert. Wie Baumgärtner erklärt, sei die Inzidenz "nicht mehr das Maß aller Dinge". Wichtig sei es, dass die Versorgung in den Krankenhäusern gesichert ist. Eine Gefahr, dass diese nicht mehr gewährleistet sein könnte, sieht er nicht.
- Lesen Sie hier unseren Newsblog zum Oktoberfest
Woran das liegt? Zum einen daran, dass die momentan dominante Virusvariante Omikron zwar hochansteckend ist, aber bedeutend weniger gravierende Krankheitsverläufe verursacht als die Delta-Mutation oder der Wildtyp des Coronavirus. Darüber hinaus ist ein Großteil der Bevölkerung inzwischen mehrfach geimpft. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Infektion zu sterben, ist derzeit 20 bis 30 Mal geringer als in früheren Phasen der Pandemie, sagte Virologe Christian Drosten kürzlich der "Süddeutschen Zeitung".
Corona-Maßnahmen gibt es auf dem Oktoberfest keine
Zugleich ist die Omikron-Variante so ansteckend, dass selbst viele eine Infektion dann nicht mehr verhindern können, wenn sie große Menschenmassen meiden. Für den Dezember erwartet Drosten ohnehin eine neue Infektionswelle. Bei vielen auf dem Oktoberfest scheint deshalb zu gelten: Ob sie sich hier anstecken oder eben später, macht auch keinen Unterschied. Und das Virus hat seinen Schrecken für sie wohl verloren.
Dass ihnen das Oktoberfest das Risiko wert ist, ist ein weiterer Faktor für die ungetrübte Wiesn-Stimmung. Und nach der Entscheidung von Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter im April, die Vorbereitungen für das größte Volksfest der Welt einzuleiten, zeigte sich die ein weiterer Aspekt, warum viele Münchner die Wiesn trotz Infektionsgefahr feiern wollen. Denn zwei Jahre ohne Wiesn offenbarte die Not derer, die auch finanziell daran hängen.
Für viele ist die Wiesn große Einnahmequelle
Das sind zu Teilen die Wirte, auch wenn deren finanzielles Polster im Vergleich zu anderen Akteuren auf dem Oktoberfest noch vergleichsweise groß gewesen sein dürfte. Ihr Vizesprecher Christian Schottenhamel zeigte sich "echt glücklich", dass das Fest dieses Mal wieder stattfinden konnte.
Zu den Wirten kommen noch viele weitere Leidtragende, die der doppelte Ausfall der Wiesn bedeutend härter getroffen hatte: die Bedienungen, Standbetreiber oder Schausteller. Von deren Sprecherin Yvonne Heckl hieß es im Frühjahr etwa, ihr sei "ein Felsbrocken vom Herzen gefallen", dass das Oktoberfest stattfindet.
Für München und viele Menschen in der Stadt ist das Oktoberfest nicht nur ein großer Spaß, sondern auch Existenzgrundlage. Als weltweit bekanntes Symbol für die Stadt ist seine Strahlkraft zudem unersetzlich. So erklärt es sich, warum in München und ganz Bayern für die Wiesn – wie auch für andere Volksfeste – das Risiko eingegangen wird. Auch, wenn das vor allem für Menschen mit einer Vorerkrankung ein wirklich hohes sein kann.
- Anfragen an Clemens Baumgärtner und LMU Klinikum
- Süddeutsche Zeitung: "'Die Situation ändert sich gerade wieder'" (kostenpflichtig)