Die echten Bergretter in den Alpen "Wanderer schätzen sich oft völlig falsch ein"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Skitouren, Wanderer, Bergsteiger: Die bayerischen Voralpen werden seit Jahren von Ausflüglern überlaufen. Selbstüberschätzung und Geltungssucht sorgen dann für viele Unfälle, klagen Bergretter – sie fordern mehr Dankbarkeit.
Lorenz Haberle hat eine kraftvoll rüstige Stimme. "Der Einheimische kennt halt seine Berge!", sagt er. Am Dialekt ist nicht zu überhören, dass er von hier kommt, aus den Bergen Oberbayerns. Sachlich beschreibt er, was er und seine Kollegen von der Bergwacht Schliersee in den bayerischen Voralpen zu verrichten haben: Schwerstarbeit. Erfahrung und Routine hat er genug gesammelt, Einsatz um Einsatz geht es auf den Berg.
Von der Schliersbergalm über Spitzingsee und das Forsthaus Valepp an der Grenze zu Tirol bis zum Josefstal mit seinen Wasserfällen – Haberle und seine Kollegen überblicken das Mangfallgebirge aus dem Effeff. Im Gegensatz zu so manchem Wanderer oder Skitourengeher: Für sie ist die Bergwacht vom Schliersee nicht selten Retter in höchster Not.
Schliersee und Tegernsee: Viele Einsätze für die Bergwacht Bayern
"Meist sind es Urlauber. Die kommen aus ganz Deutschland an den Spitzingsee. Und natürlich kommen sehr, sehr viele Münchner. Wir sind ein Naherholungsgebiet für die Stadt", erzählt Haberle t-online und meint belustigt: "Viele, die vom Norden anreisen, sind überrascht, wenn plötzlich eine Bergwacht vor ihnen steht. Die wissen gar nicht, dass es das in Bayern gibt."
Auch zu Ostern werden viele Bergsportler und Touristen erwartet. Das dokumentieren die Autokolonnen, die sich von der Autobahn 8 kommend die Bundesstraßen 472 und 307 entlang ins bayerische Oberland fräsen.
Für die Bergwacht bedeutet dieser Ansturm einen "Aufwärtstrend bei den Einsatzzahlen. Seit 2010 sind sie um das Doppelte gestiegen", erklärt Alexander Stern, der verantwortliche Einsatzleiter der Bergwacht Rottach-Egern, bei t-online. Wie die Kolleginnen und Kollegen vom benachbarten Schliersee hat auch das Team vom Tegernsee mehr als 50 Kilometer südlich von München reichlich zu tun.
Bayerische Voralpen: Bergretter müssen auch Tote bergen
"2015 bis 2019 kamen wir im Schnitt auf circa 230 bis 250 Einsätze pro Jahr. Sobald der Alarm geht, lassen die Einsatzkräfte alles liegen und gehen in den Einsatz", erzählt Stern und berichtet, dass die Zahl der Einsätze während der Hochphasen der Corona-Pandemie 2020 und 2021 auf 170 Einsätze pro Jahr sank.
Der Trend kehre sich nun aber wieder um. Das Skigebiet Sutten ausgeklammert, meistere sein Team im Frühjahr drei bis fünf Einsätze pro Woche, erklärt der Tegernseer. Dass die Bergretter dabei auch Tote bergen müssen, ist Teil ihrer harten, ehrenamtlichen Arbeit. "Von 2021 bis Mitte Februar 2022 waren es vier Tote. Wir hatten einen abgestürzten Gleitschirmflieger, Herz- und Kreislaufversagen", sagt Haberle.
Und er schildert, was gefährlich ist: "Lebensgefahr besteht abseits der Piste beim Rodeln oder Skifahren, zum Beispiel wenn man einen Baumstumpf übersieht", erklärt der Schlierseer. "Beim Wandern im Sommer herrscht in höheren Lagen Absturzgefahr. Da rutscht schon mal jemand aus, speziell beim Abstieg, wenn man an einem Stein hängen bleibt."
In den Alpen überschätzen sich viele
Im Bereich der Bergwacht Rottach-Egern sind es zwei bis fünf Todesopfer jährlich, erklärt Stern, "meist wegen Herz- und Kreislaufproblemen". Stern nennt zwei Risikofaktoren: mangelnde Selbsteinschätzung – und Geltungssucht.
"Leider verspüren wir einen gewissen Freizeitdruck. Durch die Corona-Pandemie und die sozialen Medien hat sich das verstärkt. Die Menschen haben wohl einen erhöhten Drang, nach draußen zu gehen. Hierbei wird leider oft unterschätzt, dass Berge anspruchsvoll sind und kaum Fehler verzeihen", sagt er und meint: "Was man in den Social-Media-Beiträgen nicht sieht, ist der beschwerliche und gefährliche Weg zu den Motiven."
Risiko Alpen: Retter ermahnen Wanderer und Bergsteiger in Bayern
Stern erwähnt als Beispiel Einsätze im Frühjahr 2021 in den Blaubergen an der Grenze zwischen Bayern und Tirol. Hier seien unterhalb des 1863 Meter hohen Halserspitz-Gipfels mehrmals Gerettete von den zu dieser Jahreszeit üblichen Schneemengen überrascht worden, erklärt der Bergwächter: "Wir müssen oft feststellen, dass Wanderer zwar gut ausgerüstet unterwegs sind, aber leider sich selbst, die Tour oder das Wetter völlig falsch einschätzen. In diesem Fall nützt die beste Ausrüstung nichts."
Die Folgen fehlender Selbsteinschätzung sind nicht selten: Unterschenkelfrakturen, Schlüsselbeinbrüche, Bänderabrisse, Gesichtsschädelverletzungen oder Kreislaufprobleme, zählen die beiden Bergretter unisono auf. Teils mangelt es an einfacher Vorbereitung: So könne "ein verirrter Skitourengeher im Winter ab 16.15 Uhr zum Hubschraubereinsatz werden", wenn die Dunkelheit einbricht, schildert Haberle.
Stellt sich die Frage: Spezielle Ausrüstung, Jeeps für unwegsames Gelände, Helikopterflüge – wer bezahlt diesen Aufwand? "Die Krankenkasse zahlt die Einsätze, analog zum Roten Kreuz", erklärt Haberle und mahnt zu mehr Demut: "Früher war der Bergwanderer sehr, sehr dankbar. Inzwischen ist der Tourismus so groß, dass jeder fordert, gerettet zu werden."
- Telefon-Interview mit Lorenz Haberle, Bergwacht Schliersee
- Antworten von Alexander Stern, Bergwacht Rottach-Egern