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Münchner Missbrauchsgutachten – Betroffene: "Dass Marx das nicht peinlich ist"


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Münchner Missbrauchsgutachten
Betroffene: "Dass Marx das nicht peinlich ist"

  • Marianne Max
InterviewVon Marianne Max

Aktualisiert am 21.01.2022Lesedauer: 6 Min.
Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising: Die Betroffene Astrid Mayer ist von seiner Stellungnahme schockiert.Vergrößern des Bildes
Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising: Die Betroffene Astrid Mayer ist von seiner Stellungnahme schockiert. (Quelle: Sven Hoppe/reuters)

Das Gutachten zu den sexuellen Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising hat viele erschüttert. Wie geht es den Betroffenen nach der Veröffentlichung? t-online hat nachgefragt.

Das am Donnerstag veröffentlichte Gutachten zu den Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising hat die personelle Spitze der katholischen Kirche zum Wanken gebracht. In ihrem mehr als 1.000 Seiten langen Dokument zeichnet die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) das erschreckende Ausmaß kirchlichen Kindesmissbrauchs nach.

Zugleich werden in dem Gutachten schwere Vorwürfe gegen den aktuellen Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, und den emeritierten Papst Benedikt XVI, damals Joseph Ratzinger, erhoben. Sie sollen von Missbrauchsfällen gewusst und sie bewusst vertuscht haben, anstatt den Kindern zu helfen.

Betroffen von kirchlichem Missbrauch war auch Astrid Mayer: Sie war acht Jahre alt, als sich ein Pfarrer an ihr verging. Die Tat im Gemeindehaus vor fast 50 Jahren beschäftigt sie noch heute. Mayer ist Mitglied der "Betroffenen-Initiative kirchlicher Missbrauch Süddeutschland" und hat mit t-online darüber gesprochen, wie sie die Vorstellung des Gutachtens erlebt hat und was sie sich für die Zukunft wünscht.

t-online: Frau Mayer, wie ging es Ihnen bei der Vorstellung des Gutachtens?

Astrid Mayer: Ich war sehr beeindruckt von den Gutachtern und ihrer Arbeitseinstellung. Im Gegensatz zum Kölner Gutachten ging es tatsächlich um die Problematik des Missbrauchs in der Kirche und nicht darum, Würdenträger möglichst wenig zu belasten. Die Gutachter haben sich berühren lassen von der Thematik – das kann man von den meisten Kirchenfürsten nicht behaupten.

Also ziehen Sie eine positive Bilanz?

Es war zumindest sehr wohltuend zu erleben, dass es Menschen gibt, die nicht selbst betroffen sind, aber sich ernsthaft auf die Thematik einlassen können. Und dass sie auch den Mut haben, sich gegen die Institution zu stellen und mit Aussagen an die Öffentlichkeit zu gehen, von denen sie wissen, dass sie dadurch wahrscheinlich rechtliche Schwierigkeiten bekommen.

Entsprach die erste Vorstellung des Gutachtens Ihren Erwartungen?

Das Gutachten ist ehrlich, indem es sagt, dass es eine sehr große Dunkelziffer gibt. Ich war außerdem positiv überrascht, dass es Zeitzeugenberichte miteinbezogen hat und mit Betroffenen gesprochen wurde – anders als das bei den Bischöfen, Pfarrern und Priestern der Fall ist, bei denen die allermeisten Angst davor haben, Betroffenen zu begegnen und mit ihnen zu sprechen. Außerdem hat es nochmals betont, wie wichtig diese Betroffenenberichte sind, da die Aktenlage so schlecht ist, dass sich anders gar kein vernünftiges Gutachten erstellen lässt.

Haben Sie denn schon mit anderen Betroffenen gesprochen? Wie ist da der Kanon?

Es gibt zwei Reaktionen. Für diejenigen, die sich sonst wenig mit der Thematik befassen, war es ein schwieriger Tag, weil er so vieles wieder hochgebracht hat: Erinnerungen, Leid. Das ist anstrengend.

Bei den meisten ist der erste Eindruck aber, dass die Thematik endlich einmal angemessen angegangen wurde. Also nicht nur nach juristischen, sondern auch nach moralischen Kriterien. Es wurde endlich nicht mehr nur danach gefragt, wie schuldig die betroffenen Würdenträger sind, sondern auch danach, wie sehr die Geschädigten vernachlässigt wurden, dass es diese überhaupt gibt. Die Perspektive der Betroffenen wurde viel stärker eingenommen.

Marx ist ferngeblieben. Was sagen Sie dazu?

Das hat mich nicht verwundert. Was mich viel mehr schockiert hat, ist diese routinierte Scham- und Schuldbekundung. Dass ihm das nicht peinlich ist. Da kann man fast schon ein Tonband aufnehmen und das jedes Mal abspielen. Auch die Aussage, die Begegnung mit Betroffenen verändere ihn ...

Also ich kann sagen, dass für Betroffene die Begegnungen mit Herrn Marx oftmals nicht sonderlich positiv verlaufen sind.

Marx will sich wahrscheinlich noch einmal äußern. Denken Sie, dass sein nächstes Statement besser wird?

Er hatte im Sommer ja schon seinen Rücktritt angeboten, was von Papst Franziskus nicht angenommen wurde. Ich hätte die Hoffnung, dass er die Bereitschaft zeigt, die Vernetzung und die gegenseitige Unterstützung von Betroffenen zu unterstützen. Aber wer nach elf Jahren noch nicht herausgefunden hat, was zu tun ist, wird das wahrscheinlich auch heute nicht.

Wie könnte eine Unterstützung durch Marx denn aussehen?

Die evangelische Kirche stellt zur Vernetzung von Betroffenen Geld zur Verfügung. Das erwarte ich von der katholischen Kirche auch. Wir möchten finanzielle Unterstützung, an die keine Bedingungen geknüpft sind, außer die unserer Satzung entsprechende Verwendung und uns somit unabhängig lässt. Das gilt für alle Bistümer. Die Kirche hat so viele ihrer Opfer retraumatisiert.

Was ist mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI.? Welche Konsequenzen fordern Sie von ihm?

Das ist ein alter Mann, der kurz vor dem Tod steht.

Also muss er keine Konsequenzen tragen?

Nein, das ist nicht der Punkt. Zurücktreten kann er ja nicht mehr. Aber ich würde mir wünschen, dass er einfach noch einmal hinsieht. Dass er sich überlegt, warum er so gehandelt hat, wie er es getan hat und vor allem darüber spricht.

Ich glaube, das könnte vielen seiner Mitbrüder helfen und vielen anderen Menschen, die auch so gehandelt haben. "Echte Einsicht, echte Reue": Das, was auch die Gutachterin Frau Marion Westphal zu Beginn der Gutachtenvorstellung gefordert hat, das würde ich mir wünschen.

Der Vatikan hat angekündigt, sich erst später zu dem Gutachten zu äußern – nach einer Prüfung. Halten Sie diese Reaktion für angemessen oder hätte man gleich reagieren müssen?

Nein, ich erwarte vom Vatikan gar nichts. Das, was in dem Gutachten steht, war dem Vatikan auch schon vorher bekannt. Es hätte längst was passieren müssen. Das Kirchenrecht wurde zwar reformiert, aber noch immer ist der Missbrauch von Kindern ein Verstoß gegen das sechste Gebot.

Die Sünde ist also nicht etwa, dass man ein Kind schädigt, ihm das Vertrauen in Welt und Menschen austreibt, sondern der Verstoß gegen das Zölibat. Das beweist, dass diese Institution nichts begriffen hat.

Wie sollte die katholische Kirche insgesamt auf das Gutachten reagieren?

Die Kirche sollte dringend ein kirchliches "Me too" fördern. Sie sollte erst einmal schauen, wer vom kirchlichen Personal selbst betroffen ist und diese Menschen unterstützen. Denn da, wo viele Menschen betroffen sind, die verdrängen müssen – und das muss man in kirchlichen Institutionen –, da kann man nicht vernünftig damit umgehen.

Auch sollte nach den weiteren Opfern der registrierten Täter – und die wird es geben – gesucht werden. Es sollte nicht wie bisher einfach nur darauf gewartet werden, dass die wenigen, die den Mut dazu haben, sich selbst "melden".

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Dass Herr Marx es immer noch wagt zu sagen, seine eigentliche Aufgabe sei, das gute Wort zu verkünden, anstatt sich mit solchen Themen zu befassen – das ist eine derartige Bankrotterklärung. Vielleicht sollten die Menschen im Erzbistum München und Freising dem Herrn Marx sagen, dass sie sich eine andere Seelsorge wünschen.

Also sollten andere mehr aufstehen?

Das ist schwer. Diejenigen, die ich kenne und die das in der Kirche tun, die haben riesige Schwierigkeiten. Die müssen mit Konsequenzen rechnen – mit Maulkörben und arbeitsrechtlichen Konsequenzen.

Und wie ist der Ausweg? Kann die Kirche die Aufarbeitung allein schaffen oder sollte der Staat eingreifen?

Auch wenn ich aus der Kirche ausgetreten bin, halte ich die Kirche für eine wichtige Institution. Aber es ist eine Katastrophe, dass sie mit dem Thema Missbrauch so überhaupt nicht umgehen kann. Das ist ein Schlag ins Gesicht, nicht nur der kirchlichen Missbrauchsopfer, sondern aller Menschen, die so etwas erleben mussten.

Das zeigt die Kirche, die angeblich unsere moralische Instanz ist. Die zeigt Tag für Tag, dass sie das Thema für unwichtig und Missbrauchsopfer für lästig und unglaubwürdig hält. Das ist für uns als Gesamtgesellschaft schlimm.

Was meinen Sie genau? Wie sollte sich die Politik dazu verhalten?

Die Ignoranz dieses Themas, die die Bischöfe so konsequent betreiben, ist ein gesellschaftliches Problem. Ich wünsche mir, dass sich die Politik endlich der Institution Kirche gegenüber positioniert und die Aufsicht und Verantwortung übernimmt – über Jugendarbeit, Schulen und Kindergärten. Oder dass sie sich von der Illusion verabschiedet, Kirche trage zur "Wertevermittlung" in unserer Gesellschaft bei, wie es im Koalitionsvertrag steht. Was sollen das für Werte sein?

Denken Sie, das wird mit der neuen Bundesregierung, jetzt wo die CDU in der Opposition ist, geschehen?

Ich hoffe es sehr. Wir brauchen das ganz dringend. Ich engagiere mich seit zehn Jahren in diesem Bereich, von der Politik fühle ich mich dabei allerdings alleingelassen. Das ist verantwortungslos und das geht so nicht.

Frau Mayer, vielen Dank für das Gespräch!

Hinweis: Astrid Mayer hat sich dazu entschieden, kein Porträt für die Berichterstattung zur Verfügung zustellen, um nicht als Missbrauchsopfer erkannt zu werden. Die Bildauswahl wurde dementsprechend vorgenommen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Astrid Mayer
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