Reaktionen auf Münchner Gutachten Kirchenrechtler: "Benedikt XVI. hat sich komplett ruiniert"
Das Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising ist für den ehemaligen Papst Benedikt XVI. und Kardinal Reinhard Marx verheerend. Einige fordern nun Konsequenzen.
Das neue Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising hat den emeritierten Papst Benedikt XVI. und den amtierenden Erzbischof Reinhard Marx schwer belastet – und ein breites Echo unter Wissenschaftlern und Betroffenenorganisationen hervorgerufen.
Der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht die Reputation Joseph Ratzingers, später Papst Benedikts XVI., nun dauerhaft beschädigt. Er habe sich "komplett ruiniert", so Schüller. Der 94-Jährige habe die letzte Chance verpasst, vor seinem Tod noch eigene Fehler einzuräumen. "Das ist das Drama", sagte der Kirchenrechtler.
Schüller: "Joseph Ratzinger hat die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen. Er wird der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher. Er fügt der katholischen Kirche und dem Papstamt damit einen irreparablen Schaden zu". Er betonte, über Ratzingers spätere Zeit als Präfekt der römischen Glaubenskongregation und Papst werde man erst lange nach seinem Tod abschließend urteilen können, wenn die Archive geöffnet würden.
Opferinitiative in München: "Lügengebäude ist krachend zusammengefallen"
Auch der Sprecher der Opferinitiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, bezeichnet das Gutachten als eine "historische Erschütterung" der Kirche. "Dieses Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde hier in München, das ist heute krachend zusammengefallen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag in München.
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Einige Taten hätten nur darum stattfinden können, weil Joseph Ratzinger in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising die Entscheidung getroffen habe, einen Missbrauchstäter in seinem Bistum einzusetzen. Das "täterzentrierte System" sei "an der Spitze belastet", sagte Katsch: "im Vatikan, da wo Benedikt bis heute sitzt und leugnet". "Jeder, der das jetzt hier gerade miterlebt hat, muss erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen ist".
Missbrauchsexperte Pater Hans Zollner fordert nun ein Zeichen von Benedikt XVI. "Jetzt muss etwas vom emeritierten Papst Benedikt XVI. kommen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag in Rom. Zollner ist Mitglied der 2014 eingerichteten Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen und fungiert damit als externer Berater für den Vatikan. Dieser will sich erst in den kommenden Tagen zu dem Gutachten äußern. Man werde es einsehen und könne dann angemessen die Details prüfen, erklärte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni, am Donnerstag.
ZdK-Präsidentin: "Katholische Kirche muss sich der Wahrheit stellen"
Zum Fall des im Gutachten ebenfalls belasteten Münchner Kardinals Reinhard Marx sagte Schüller, es sei möglich, dass Marx erneut seinen Rücktritt anbieten werde. Da seine Fehler aber nicht so schwer wögen wie etwa die des Hamburger Erzbischofs Stefan Heße, dessen Rücktritt Papst Franziskus ebenfalls abgelehnt hatte, sei nicht auszuschließen, dass ein neues Rücktrittsangebot ebenfalls vom Papst abgelehnt werde. Marx hatte sich am Donnerstag entschieden, nicht zu der Veröffentlichung des Gutachtens zu kommen. Bei seiner Stellungnahme um 16.30 Uhr entschuldigte sich bei den Betroffenen. Einen erneuten Rücktritt bot er jedoch nicht an.
Der Münchner Generalvikar Christoph Klingan hat sich nach der Präsentation des Gutachtens "bewegt und beschämt" gezeigt. "Meine Gedanken sind in dieser Stunde zunächst bei den Betroffenen, bei den Menschen, die durch Mitarbeiter der Kirche in der Kirche schweres Leid erfahren haben", sagte er. "Den Betroffenen muss unser erstes Augenmerk gelten".
"Es ist klar, dass die katholische Kirche ein systemisches Problem hat. Sie muss sich endlich dieser Wahrheit stellen", sagte auch Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Sie sieht auch nach dem Gutachten noch immer viele Missstände. "Auch im Jahr 2022 heißt die bittere Realität: Das System der Vertuschung, des Vergessens und der schnellen Vergebung ist nicht aufgebrochen worden", so Stetter-Karp.
Missbrauchsbeauftragter: "Gutachten hat herzlosen Institutionsschutz offenbart"
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat der katholischen Kirche nach der Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens "kalten Pragmatismus" vorgeworfen. "Das Gutachten hat einmal mehr den herzlosen, konsequenten Institutionenschutz offenbart, der über Jahrzehnte von der katholischen Kirche praktiziert wurde", sagte Rörig den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Auch nach zehn Jahren im Amt des Missbrauchsbeauftragten habe ihm das fast die Sprache verschlagen. "Ich bin immer wieder verblüfft, wie die Kirche jahrzehntelang versucht hat, mit kaltem Pragmatismus Missbrauch wegzuverwalten."
An die Bundesregierung appellierte Rörig, die von ihm 2016 berufene Aufarbeitungskommission zu stärken, gesetzlich zu verankern und ihr Kontroll- und Beratungsrechte zu geben. "Denn es geht ja nicht nur um die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Zusammenhang. Sexuelle Gewalt gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft. In Schulen, in Sportvereinen, in Kitas oder in Familien."
Gutachten belastet Benedikt XVI. und Marx schwer
Das vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden.
Zudem wirft es den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor. Auch dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen (Mehr dazu lesen Sie hier).
- Nachrichtenagentur dpa